zurück zur Hauptseite



Armes Tier

Fleischproduktion global

von Hilal Sezgin


Bei diesen Zahlen kann man Kopfschmerzen bekommen: 65 Milliarden Landwirbeltiere wurden weltweit im Jahr 2012 geschlachtet und in der einen oder anderen Form von Menschen aufgegessen, die Milliarden von Meerestieren und die erjagten Tiere nicht eingerechnet. Doch die Obergrenze des Appetits aufs Tier ist noch lange nicht erreicht. 43 Kilogramm Fleisch verspeist der menschliche Erdenbewohner im Schnitt jährlich, wobei der Pro-Kopf-Verbrauch in den Industrieländern bei 79 Kilo und in den Entwicklungsländern bei nur 33 Kilo liegt. Bei Milch ist die Spanne noch größer: Laut Welternährungsorganisation (FAO Food Ouitlook 2013) verbrauchen die Menschen in den Industrienationen jedes Jahr durchschnittlich 237 Kilo Milch gegenüber 74 Kilo in den Entwicklungsländern. Und genau diese Differenz macht der Tierhaltungsindustrie Hoffnung, künftig noch viel mehr zu verdienen.

Dabei sind weder die immensen Schlachtmengen noch die Massentierhaltung ein Privileg des industrialisierten Westens. Brasilien hat die USA schon 2003 als größter Hühnerfleischexporteur überholt, und der brasilianischer Rinderbestand soll sich bis 2018 gegenüber 2009 verdoppeln.

Vergl.: Brighter Green, „Cattle, Soyanization and Climate Change. Brazil´s Agricultural Revolution, 2011, S.1

Hauptabnehmer des brasilianischen Sojas (vor allem als Futtermittel) wiederum ist nicht etwa die EU, sondern China, das als einziges Land der Welt eine strategische Schweinefleischreserve besitzt (in gefrorener und lebendiger Form) und heute schon fast die Hälfte allen Schweinefleischs weltweit produziert. Außerdem ist China der drittgrößte Milcherzeuger der Welt ( hinter den USA und Indien). Hier werden für weiteres Wachstum immer mehr Produktionseinheiten für etliche tausend Milchkühe errichtet. Jeden Monat lässt sich allein das Unternehmen Huishan Diary etwa 3000 zumeist trächtige Kühe auf dem Seeweg aus Australien liefern.

Vergl.: Brighter Green, „Beyond the Pail, The Emergence of Industrialized Diary Systems in Asia, S.10. Zum Tierschutzproblem während der wochenlangen Transporte siehe die Informationen der Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals Australia.

Die weltweit größte Rinderherde mit 300 Millionen Tieren besitzt Indien, dessen Regierung 1970 die „Operation Flood“ startete, um das gesamte Land mit Milch zu versorgen. 2011 beschloss man, die Milchproduktion in den kommenden 15 Jahren nochmals zu verdoppeln – nicht zufällig eröffnete 2011 auch Indiens erste Großanlage mit 2500 Milchkühen. Mit dem Verzehr von Rindfleisch tun sich viele Inder noch schwer, doch die Nachfrage nach Hühnchen wächst. 2 Milliarden Masthühner werden in Indien jährlich geschlachtet, 90 Prozent von ihnen stammen aus Massentierhaltung.

Vergl.: Brighter Green, „Veg or Non-Veg? India at the Crossroads“, S.5.

Dass die aufstrebende Mittelklasse der Schwellenländer mit ihren „verwestlichten“ Konsumbedürfnissen den Fleisch- und Milchkonsum vorantreibt, ist fast schon ein Allgemeinplatz. Genauso wahr ist aber auch, dass die Agrarindustrien der entwickelten Länder hier Chancen erkennen. Die europäischen Inlandsmärkte sind fast gesättigt, dagegen sind die Schweinefleischexporte nach China inzwischen ein nicht unerheblicher Pfeiler des internationalen Fleischhandels geworden – ganz abgesehen davon, dass es in China auch Abnehmer für die in Europa ungeliebten Schweine- und Hühnerfüße gibt.

Internationale Fastfoodketten wie McDonald´s, Pizza Hut und Kentucky Fried Chicken breiten sich in Asien aus, Nestlé und Danone „entwickeln“ asiatische Märkte und dafür geeignete Produkte, und Coca-Cola bietet in Indien ein Frucht-Milch-Getränk an. Damit die Produkte aus Deutschland mit Qualität assoziiert werden, legte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2010 ein Exportförderprogramm auf, zu dem Imagekampagnen gehören sowie die Förderung und „Begleitung“ von Kongressen und die Unterstützung von Auslandsreisen zur Geschäftsanbahnung.

In Asien entstehen aber nicht nur neue Märkte für Endprodukte, sondern auch für Maschinen, Stalleinrichtungen und Ausbildung. Mit einem eigenen Programm will das Bundesministerium für Bildung und Forschung „einen Beitrag zur Berufsbildung ländlicher Arbeitskräfte in China leisten“. Chinesische Bauern besuchen Deutschland, niedersächsische Bauern reisen nach China. Dort begutachten sie Ställe, beraten zu Hygiene- und Fütterungseinrichtungen, bringen „Ferkelspielzeug“ mit und zeigen, wie man wenige Tage alte Ferkel ohne Betäubung kastriert.

Siehe: „Eindrücke eines deutschen Junglandwirts aus chinesischen Schweineställen“: www.tierwirt-china.com/php/.

Man lehrt also genau jene Massentierhaltungsverfahren, deren gravierende Tierschutzprobleme hierzulande immer deutlicher werden. Eine Sprecherin des Ministeriums erklärte dazu: „Für Deutschland bietet diese Situation viele Chancen. Qualitativ hochwertige berufliche Aus- und Weiterbildung wird zunehmend ein Schlüsselfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf internationalen Märkten. Gut ausgebildete Fachkräfte bahnen somit den Weg für weitere Exporte der deutschen Industrie.

Das können Landmaschinen sein oder Geräte, Melkanlagen wie die von Siemens, die inzwischen auch in Indien zum Einsatz kommen, oder Stalleinrichtungen wie die des deutschen Marktführers Big Dutchman. Nicht alle Exporte allerdings erfüllen die hiesigen Tierschutzstandards. Einen kleinen Skandal gab es, als bekannt wurde, dass die Bundesrepublik im Jahr 2012 Hermes-Bürgschaften in Höhe von 31,6 Milliarden Euro für Geflügelhaltungssysteme vergeben hat, die in der EU nicht mehr zugelassen sind.

Eine weitere Chance sieht die deutsche Agrarindustrie im Export von Hochleistungszüchtungen, in der Fachsprache: Genetik. Schließlich werden in Entwicklungs- und Schwellenländern bislang oft noch Nutztiere gehalten, die mit den „Leistungen“ moderner Genetiken bei Fleischwachstum, Milchmenge und Eierzahl nicht mithalten können. Diese Lücke will ein bilaterales Kooperationsprojekt des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft nutzen: „Um die chinesische Rinderhaltung weiterzuentwickeln, wollen die chinesischen Partner deutsche Genetik, Technologie und Erfahrungen zur Optimierung der Produktionsverfahren der Milch- und Rindererzeugung wirkungsvoll nutzen. Damit soll die chinesische Rinderhaltung in ihrer Leistungsfähigkeit, Qualität und Ressourceneffizienz verbessert werden“. Unter anderem geht es um die „Bereitstellung von deutscher Rindergenetik“.

Bereitstellung heißt: Verkauf. Zu den Kooperationspartnern zählt die Firma Masterrind, die derzeit in Deutschland jährlich 3 Millionen Portionen Sperma „produziert“ und teiulweise auch ins Ausland verkauft. „In China und Indien steht man noch am Beginn der Zusammenarbeit“, sagt die Firmensprecherin. „Aber es lohnt aufgrund der großen Anzahl an Menschen, die dort leben, und wegen des ansteigenden Milchkonsums, in dieses Projekt Zeit, Geld und Wissen zu investieren“. Meistens geht es darum, in die lokalen Rinderrassen „genetisch höherwertiges“ Material einzukreuzen, um die Milchmenge zu steigern; bisweilen kreuzt man aber vorhandene Milchrinder auch mit Fleischrindern, um die Verwertbarkeit (also den Schlachterlös) der Kälber zu steigern, die bei der Milchviehhaltung unvermeidbar anfallen. Mit den Genetiken exportiert Deutschland auch deren Schattenseite: Aufgrund der hohen Milchmengen leiden die heutigen Milchkühe unter Skelettproblemen, Euterentzündungen und dem Milchfieber.

Vermutlich werden sich mit der Effizienzsteigerung durch die Genetik auch für westliche Pharmafirmen in den Schwellenländern neue Chancen eröffnen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert beispielsweise ein Projekt, das afghanischen Frauen die Hühnerhaltung ermöglichen soll. Die Projektpartner stellten gasbetriebene Brutkästen für Küken sowie Medizin und Impfstoffe zur Verfügung. Als Startpaket für Geflügelzucht erhielten die Frauen Hühnerdraht, eine Tränke, Fütterer, Eierbehälter, 100 Kilo Legefutter und 20 Küken. Den Impfstoff bekamen sie anfangs kostenlos, künftig müssen sie diesen jedoch bei Tierärzten kaufen.

Natürlich wäre es eine Illusion, zu glauben, die Nutztiere würden ohne Massentierhaltung ein gutes Leben führen. Frühe archäologische Funde zeigen Spuren von Misshandlungen, Mangelerscheinungen, Skelettschäden und Stressfolgen, und schon damals starben viele der Tiere an Tierseuchen. Im neuzeitlichen Europa wurden Schweine oft in dunklen Koben gehalten, im elisabethanischen England hatten sie so wenig Platz, dass sie sich nicht umdrehen konnten und immer auf dem Bauch liegen mussten.

Dem Wassergeflügel wurden bisweilen die Füße am Boden festgenagelt, damit es schneller an Gewicht zunahm. Die oft idealisierten Nomaden der eurasischen Steppe haben Fettschwanzschafe gezüchtet, um ihnen bei lebendigem Leib Fett herausschneiden zu können. In Neu-Guinea ist es heute noch üblich, Schweinen den vorderen Teil des Rüssels abzuschneiden oder ihnen die Augen auszustechen, damit sie sich nicht selbständig Futter suchen oder davonlaufen können. Und auch nichtindustrialisierte Schlachtungen waren und sind blutige Gewaltakte. In Indien wird wenig Schein gegessen, aber diese Schweine müssen von mehreren Leuten fixiert werden, während man ihnen den Kopf abschneidet. Selbst in den Bundesstaaten, in denen Rinder nicht geschlachtet werden dürfen, setzt man ausgemergelte Milchkühe biosweilen aus – oder karrt sie auf

offenen Transportern, angebunden, stehend und ohne Wasser in einen anderen Bundesstaat.

Vergl.: Brighter Green, „Veg or Non-veg? India at the crossroads“ S.34

Im Zuge einer Intensivierung der Landwirtschaft entstehen derzeit in den Schwellenländern Mischformen zwischen den regional üblichen und der hochindustrialisierten Tierhaltung. So hat zum Beispiel Indien im 20. Jahrhundert eine kooperative, kleinbäuerliche Milchkuhhaltung staatlich gefördert; inzwischen werden die Kühe vieler verschiedener Eigentümer oft in großen Anlagen zusammengepfercht, um das Melken und den Milchtransport zu rationalisieren, und in Anbindehaltung und ohne Weidegang gehalten. Hier sind also Merkmale der kleinbäuerlichen Tierhaltung und der Massentierhaltung gleichzeitig erfüllt.

Überhaupt hat die boomende Tierhaltung in den Schwellenländern offenbar vor allem das Einpferchen vieler Tiere auf kleinstem Raum von der Massentierhaltung übernommen. Allerdings werden dabei, weil menschliche Arbeitskraft noch billig ist, Haltungsformen ohne die in Industriestaaten typische Automatisierung eingeführt. In den indischen Legefarmen hat seit den 1980er Jahren die Käfighaltung Einzug gehalten, und Schnabelkürzen ist Standard. Mechanisiert sind diese Großanlagen aber nicht, die Temperatur ist nicht regulierbar, und weiterhin wird von Hand gefüttert, die Eier werden von (Kinder-)Hand eingesammelt. Auch die „Verbesserungen“ im Bereich der Zucht gehen fast immer zulasten der Tiere, zumal die neuen europäischen Zuchtlinien nicht an alle Klimazonen angepasst sind. In China, dessen Milchkühe in Anlagen mit tausenden Tieren auf Betonboden stehen, treten bereits die typischen Klauenerkrankungen und die Euterentzündungen auf.

Geschlossene Käfigsysteme, aber ohne Kühlung; Medikamente, aber ohne Beschränkung; und Zuchtfolgen ohne das Know-how, sie wenigstens zu lindern: In solchen Fällen bekommen die Tiere das Schlechteste aus zwei Welten. Sie sind die Verlierer des steigenden Wohlstands, der bislang mit einem erhöhten Verbrauch von tierischen Produkten einhergeht.

Was Gedeih und Verderb der Tiere selbst angeht, gibt es keinen großen Unterschied, ob sie nun primär für die Fleisch-, die Eier- oder die Milchproduktion eingesetzt werden. So oder so sind sie in ihrem Leben Einschränkungen und Qualen ausgesetzt, und weit vor Ablauf der natürlichen Lebensspanne stirbt jedes Nutztier gewaltsam von Menschenhand. Wer nicht bloß zusehen will, wie der (erhoffte) Fortschritt der Menschheit mit einem vervielfachten Tierleid einhergeht, wird sich mit der Frage beschäftigen müssen, ob es nicht besser wäre, wenn sie Menschheit weniger oder gar keine Tiere mehr zum Verzehr benutzt.

Kaum spricht man es aus, hagelt es Einwände: Ist das nicht eine sehr westliche Sicht der Dinge? Sind Tierrechte, Vegetarismus und Veganismus nicht eine typische Ausgeburt von Überfluss- oder Wohlstandsgesellschaften? Aber diese Frage unterstellt ein Stufenmodell unterschiedlicher und voneinander unabhängiger „Kulturen“, über das sich Kentucky Fried Chicken, Milchkuhgenetik und Danone-Joghurt schon längst hinweggesetzt haben. Und die Spanne, die sich zwischen Ethik und wirtschaftlicher Entwicklung oder zwischen Genuss und Verzicht auftut, erscheint von Europa aus größer, als sie im Rest der Welt tatsächlich ist.

Die Umweltfolgen des Tierkonsums sind in Europa kaum spürbar, wir bekommen auch die Preisschwankungen aufgrund von Dürre, Flut oder gestiegenem Futtermittelbedarf nicht mit – etliche südliche Länder schon. Sie sind auch bisher immer die Ersten gewesen, aus deren Tierhaltung Vogelgrippen, Schweinepest und andere Zoonosen entsprangen; und weil so viel Industrialisierung in kürzester Zeit „nachgeholt“ wird, treffen viele Folgeschäden manche asiatischen Länder mit voller Wucht. In Indien und China werden die nitrat- und keimhaltigen Abwässer der Tierhaltungsanlagen meist ungefiltert in Bäche, Flüsse und Kanäle geleitet. Wasser wird knapp, um nutzbaren Ackerboden findet ein weltweiter Wettkampf statt. In Europa mag es abstrakt und idealistisch klingen, den Verzehr tierischer Produkte „für die Umwelt“ oder „für die Weltbevölkerung“ zu minimieren; In den Schwellenländern hingegen wird es immer mehr zu einer Frage der Klugheit.

Vor allem aber wäre es selbst wieder eurozentrisch und recht hochmütig, anzunehmen, die Europäer (und Nordamerikaner) hätten Vegetarismus und Veganismus erfunden. Bereits vor tausend Jahren schrieb der arabische Freidenker Abu I-´Ala´ al -Ma´arri: „Begehre nicht das Fleisch geschlachteter Tiere zu essen, oder die weiße Milch der Mütter, die doch zugedacht ist ihren eigenen Jungen (…) Und betrübe den arglosen Vogel nicht, indem du ihm die Eier nimmst; denn Ungerechtigkeit ist das schlimmste Verbrechen.“ Soweit wir wissen, blieben al-Ma´arris Mahnungen ohne Folgen. Stattdessen wurde der westliche Vegetarismus aber nicht unwesentlich von Ideen aus Südasien befruchtet. In der Renaissance, so schreibt Steven Pinker, „waren die Europäer neugierig auf die vegetarische Lebensweise geworden, nachdem man aus Indien gehört hatte, dass ganze Nationen ohne Fleisch lebten.

Vergl.: Steven Pinker, „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt (S. Fischer) 2011, S. 684.

Und auch dass sich die vegetarische Idee im Mutterland des Britischen Empire so früh und nachhaltig ausbreiten konnte, verdankt sich der Berührung mit dem kolonialisierten Indien und dessen Vegetarismus.

Die Idee, andere Tierarten zu schonen, kam den Europäern also weder als Einzige noch als Erste. Indien hat Delfinen 2013 Persönlichkeitsrechte zugesprochen. Bolivien hat 2009 den Einsatz von Tieren im Zirkus verboten. In Brasilien haben Tierschützer 2013 vor einem Labor demonstriert, es gestürmt und 200 Hunde daraus befreit. In China werden bisweilen ganze Schlachttransporte mit Hunden und Katzen aufgekauft und als Heimtiere an Privatpersonen vermittelt. Und nachdem das Fleischessen in Indien zunächst zu einem Zeichen des Wohlstands und modernem Lebenswandels wurde, ist bei vielen wohlhabenden Indern jetzt wieder der Vegetarismus angesagt.

Hilal Sezgin ist Journalistin und Autorin von „Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere“ und „Hilal Sezgins Tierleben. Von Schweinen und anderen Zeitgenossen“. Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berger, beide München (C.H.Beck) 2014.

Ersterscheinung in Le Monde diplomatique, Berlin

zurück zur Hauptseite