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Griechenland gibt es nicht mehr

Bestandsaufnahme eines Niedergangs

Von Asteris Kutulas



Griechenland ist nicht nur wirtschaftlich bankrott, es steckt in einer tiefen kulturellen und politischen Identitätskrise. Große Teile der Bevölkerung, vor allem der Jugend, sind desorientiert, verelenden zunehmend und haben Zukunftsängste. Drei Jahre nach Ausbruch der aktuellen Krise ist jeder vierte Grieche arbeitslos, fast jeder dritte lebt unter der Armutsgrenze, mehr als 25 000 Menschen sind ohne Obdach, über 1oo ooo mittlere und kleine Betriebe und Geschäfte gingen in Konkurs oder mußten schließen, die Selbstmordrate schnellte dramatisch in die Höhe, 60 % der Jugendlichen unter 25 Jahren finden keine Arbeit mehr, weswegen Zehntausende von ihnen das Land verlassen und ihr Glück in Australien, Deutschland, den USA und anderswo versuchen. Viele Ökonomen und Politiker sind inzwischen der Meinung, daß eine klare Insolvenz und die Rückkehr zur Drachme für Griechenland die einzige wirkliche Chance ist, wieder auf die Beine zu kommen. Da es aber nicht so günstig für die großen EU-Länder und die USA wäre, läßt man Griechenland einfach nicht bankrott gehen. Dennoch: ob mit oder ohne Hilfe – das Land ist am Ende.

Millionen von Betroffenen stellten seit 2009 immer wieder drei ganz einfache Fragen: Wie konnte es zu diesem totalen Niedergang der griechischen Gesellschaft kommen? Wer ist schuld daran? Wie geht es weiter.

Untaugliche Rezepte

Es gibt folgende vom europäischen Establishment verordnete und von einem Teil der Öffentlichkeit und der Presse unentwegt reproduzierte Antworten:

Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt.

Die Griechen sind vor allem selbst und als Volk insgesamt schuld – sowohl die korrupte Regierung als auch die Bevölkerung, die sich hat korrumpieren lassen und eine endlose Party feierte, ohne zu fragen, was morgen kommt.

Griechenland soll dem Folge leisten, was der Internationale Währungsfonds (IWF), die Europäische Zentralbank (EZB) und die Europäische Union (EU) unter Deutschlands und Frankreichs Führung festlegen.

Interessant ist, dass sich die letzten beiden griechischen Regierungen seit dem Ausbruch der Krise im Jahr 2009 bis zumindest Anfang 2012 diesem Antwort-Schema nicht nur angeschlossen, sondern es aktiv mit „Argumenten“ aufgefüttert, genährt und unterstützt haben. Den Höhepunkt dieser anti-griechischen Kampagne markierte folgende Erklärung des Vizepremiers Theodoros Pangalos vom 21.10.2010 im griechischen Parlament: „Auf die Frage der Menschen an uns: Wie konntet Ihr nur das ganze Geld >verprassen<?, gibt es eine einfache Antwort: Wir haben Euch verbeamtet! Wir haben das alles zusammen >verpraßt<, in einem System politischer Vetternwirtschaft, Korruption und Veruntreuung von Steuergeld.“ Übrigens war diese Erklärung überhaupt nicht selbstkritisch , sondern ausschließlich anklagend gemeint. Auch bezeichnete derselbe Minister seine griechischen Mitbürger in öffentlichen Verlautbarungen wiederholt als >faul< und >korrupt<. Nachdem Hunderttausende Empörte sich wochenlang in der griechischen Hauptstadt versammelten, äußerte er am 23.10.2011 im französischen Canal5, es handele sich bei diesen Demonsranten um >Kommunisten, Faschisten und Wichser<. Es entsprach der politischen Kultur der PASOK-Partei und des damaligen Regierungschefs Giorgos Papandreou, daß sie zu keinem Zeitpunkt den Rücktritt eines solchen Politikers verlangten und daß dieser obendrein als Vizepremier in das Regierungskabinett von Loukas Papademos übernommen wurde. Abgesehen davon, daß Theodoros Pangelos´ Aussage, alle zusammen hätten das Geld verpraßt, sachlich falsch war, offenbart seine populistisch-herablassende Haltung auf bezeichnende Art und Weise den systematischen Versuch der herrschenden Kaste, das Volk als den eigentlich Schuldigen erscheinen zu lassen, um von der eigenen politischen Verantwortung abzulenken mit einem einzigen Ziel: weiter regieren zu können.

ES gibt natürlich noch eine Vielzahl anderer Erklärungen, die man immer wieder lesen oder hören kann: Schuld an der Krise seien nicht die Griechen, sondern >das internationale Finanzkapital<, das >Lobby-Netzwerk der amerikanischen Goldman Sachs<, >die Heerscharen der von Ausländern, die Griechenland überflutet haben< oder >der IWF und die US-Regierung< oder >der Geheimbund Bilderberg< oder die <Europäische Union< oder >das kapitalistische System< oder >Deutschland< oder all das zusammen etc. etc. Das führt dazu, daß man vor Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Und als ich am 23.1.2012 während einer Podiumsdiskussion zur griechischen Krise in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin zwei griechische Wirtschaftsprofessoren erlebte, die in ihren Analysen, basierend auf denselben Zahlen, zu absolut gegensätzlichen Schlußfolgerungen gekommen waren, wurde mir klar, daß selbst anhand von Statistiken keine in irgendeiner Form verläßlichen Urteile mehr gefällt werden konnten.

Tatsache ist, daß am Patienten >griechische Gesellschaft< nicht nur ununterbrochen scheinbar je nach Lust und Laune operiert wurde, sondern größtenteils, ohne die Symptome der Krankheit diagnostiziert bzw. sie nur willkürlich diagnostiziert zu haben. Es wurden Rezepte aus der Schublade gezogen, die weder dazu taugten, die Ursachen der Krankheit zu bekämpfen, geschweige denn, diese Krankheit zu heilen.

Persönlicher Machterhalt

Ein ARD-Korrespondent in Athen erklärte während einer Tagesschau-Sendung, daß die Griechen durchaus bereit wären, den Gürtel noch viel enger zu schnallen, aber unter zwei Voraussetzungen: Erstens sollten die für die Krise Verantwortlichen bestraft werden, und zweitens solle der Staat endlich für Gerechtigkeit sorgen und auch diejenigen zur Kasse bitten, die niemals Steuern gezahlt haben und somit in gewisser Weise über dem Gesetz standen. Ganz abgesehen davon, daß man inzwischen den Gürtel kaum noch enger schnallen kann, so ist es eine Tatsache, daß Millionen von der Krise betroffene griechische Bürger bereits seit Anfang 2010 von ihrer Regierung Aufklärung darüber fordern, wie und durch wen das Land in diese Situation geraten konnte.

Erst als die PASOK-Regierung Ende 2011 abgelöst wurde, die Macht an den Technokraten Loukas Papdemos überging und Griechenland kurz davor war, in den Abgrund, an dessen Rand es bis dahin gestanden hatte, zu springen, vernahm die griechische Bevölkerung niemals zuvor gehörte Schuldbekenntnisse zweier Regierungsvertreter, nämlich die des Ex-Premiers Papandreou und des amtierenden Finanzministers Evangelos Venizelos. Und das an einem Tag, an dem das zweite >Sparpaket< verabschiedet werden sollte, mit dem zugleich eine radikale Verelendung breiter Bevölkerungsschichten beschlossen wurde. Die Umfragewerte der 2009 mit 44 Prozent ins Parlament gewählten Regierungspartei PASOK waren inzwischen auf 8 % gefallen. Erst in diesem Augenblick hielten die führenden sozialistischen Politiker den Zeitpunkt für gekommen, sich Asche aufs Haupt zu streuen. Tatsächlich brachte der sowohl unter Giorgos Papandreou als auch in der Regierung Lukas Papademos amtierende Finanzminister Evangelos Venizelos folgendes über die Lippen: „Unser Land steht vor einem tragischen Dilemma und kämpft ums Überleben. Das wahre nationale Problem besteht darin, daß wir Jahrzehnte verloren haben. Wir waren nicht in der Lage, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen. Wir waren nicht in der Lage, eine selbständige Wirtschaft aufzubauen. Wir konnten die Zukunft unserer Kinder nicht absichern und führten das Land in eine Situation der Ausweglosigkeit.“ Treffender konnte man die Bankrott-Erklärung der griechischen Politik und der beiden sei 1974 abwechselnd herrschenden Parteien PASOK und ND (Neue Demokratie) nicht auf den Punkt bringen. Zwar hatte sich niemals zuvor ein Regierender dergestalt geäußert, aber diese Erklärung kam zu spät, und daß sie überhaupt gegeben wurde, geschah einzig und allein aus politischem Kalkül. Es ging um den persönlichen Machterhalt, um nichts anderes. Evangelos Venizelos hatte nichts mehr zu verlieren und versuchte aus dieser ausweglosen Situation erneut Gewinn zu ziehen, indem er sich als Weißer Ritter aufspielte, um wenige Wochen später Giorgos Papandreou als PASOK-Vorsitzender abzulösen und eine Regierungskoalition mit der konservativen Neuen Demokratie einzugehen.

Korruptes Establishment

Sowohl Theodoros Pangalos als auch Evangelos Venizelos, aber auch Giorgos Papandreou, Konstantin Karamanlis, Dora Bakopoulou oder Antonis Samaras, sie alle stammen aus Politikerfamilien, die teilweise seit 100 Jahren das gesellschaftliche System Griechenlands beherrschten. Sie symbolisieren das alteingesessene, korrupte, marode, reformresistente Establishment von Vetternwirtschaft und Klientelismus, sie haben es beständig weiter gestärkt und gefestigt und damit in Griechenland quasi die Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinne abgeschafft. Sie alle gehören zu den wenigen >Herrscherfamilien<, die neben diversen Großverlegern, Reedern und Berufspolitikern die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Landes bestimmten. Etwa 400 Menschen treffen in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 alle ökonomischen und politischen Entscheidungen, und viele von ihnen bereicherten sich auf Kosten der Allgemeinheit auf die eine oder andere Art und Weise, wobei sie sich dabei auch an EU-Geldern in Form von Provisionen, Kick-Backs, auf dem Umweg über Scheinfirmen und sogar durch unverhohlenen Betrug bedienten. Dieses extrem parasitäre Establishment konnte sich an der Macht halten, weil es unentwegt dafür sorgte, sich eine politikhörige und untertänige Staatsanwaltschaft sowie eine korrupte Finanz- und Steuerbehörde heranzuzüchten und diese am Leben zu erhalten, was jeglichen Ausbruch aus dem bestehenden System unmöglich machte. Zudem stützt sich dieses System auf eine durch die geduldete Steuerhinterziehung und andere Privilegien gehätschelte Oberschicht, bestehend aus Kommunalpolitikern, Top-Rechtsanwälten, Gewerkschaftsbossen, >Star-Journalisten<, Ärzten, auserwählten Unternehmern und Landwirten. >Freie Wahlen< waren zugelassen, aber viele Stimmen wurden gegen Vergünstigungen (rousfeti) jeglicher Art gehandelt, was hauptsächlich die Verbeamtung einer Anzahl von >treuen Wählern< oder deren Familienangehörigen bedeutete.

Dadurch wurde nicht nur ein Teil der Bevölkerung >korrumpiert< und >politisch fanatisiert<, sondern auch >mitschuldig< gemacht am Verfall der Werte und des sozialen Gefüges. Im Laufe der letzten 40 Jahre änderte sich dadurch das soziale Verantwortungsgefühl vieler Griechen, und es überwog immer mehr das Streben, zu den Neureichen zu gehöre, ein grenzenloser Egoismus, der von der herrschenden Kaste befördert und zum obersten Prinzip der neoliberalen griechischen Gesellschaft erhoben wurde. Wer sich darauf nicht einlassen wollte, hatte kaum Aufstiegschancen. Vom Ausmaß der Korruption zeugen an der Spitze des Eisbergs der Koskotas-, der Siemens-, der Ferrostahl- und der Protonbank-Skandal, das Vathopredi-Desaster, die dubiosen Waffengeschäfte griechischer Politiker und Beamter sowie Tausender nicht verfolgter und nicht aufgeklärter Skandale.

Hinzukommt, daß die sei 1974 herrschende Politikerkaste den fast unbegrenzten Einfluß ausländischer und ungezügelter nationaler wirtschaftlicher Interessen zugelassen und darauf ihre Macht gestützt hat, ohne jemals auch nur ansatzweise eine eigenständige nationale griechische Politik zu verfolgen. Die Ergebnisse sind schockierend. Das Land befindet sich seit 2008 in einem rasanten Niedergang – nicht nur in finanzieller und struktureller, sondern auch in moralischer und kultureller Hinsicht.

Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Politikerkaste hat nicht nur dazu beigetragen, daß sich die Mentalität und die Wertevorstellungen der griechischen Gesellschaft und besonders der jeweils jungen Generation innerhalb der letzten 40 Jahre immer mehr zugunsten eines ausgeprägten Konsum- und Wohlstandsdenkens veränderten, sondern sie hat vor allem wirtschaftlichen und ausländischen Interessen gedient, anstatt eigene Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Griechenlands Wirtschaft und seinen Dienstleistungssektor schrittweise hätte stärken können.

Im Ergebnis dieser rein persönlichen Interessen folgenden – Politik wurde Griechenland 2010 der Herrschaft von IWF, EZB und EU (Troika) unterstellt, die mehrere so genannte Rettungsschirme aufspannten und weiterhin aufzuhalten gewillt sind. Inzwischen ist Griechenland dauerhaft auf Finanzspritzen von außen angewiesen, allerdings – so lautet das Diktat der Troika – um Schulden (an die großen europäischen Banken) bezahlen und seine Zinsen bedienen zu können, nicht, um seine Krise zu bewältigen. Die alteingesessene Politikerkaste Griechenlands unterstützt vorbehaltlos die Übernahme der Herrschaft über das Land durch eine ausländische Macht, da dies die einzige Chance ihres eigenen Überlebens darstellt. Deshalb trägt sie innenpolitisch das Damoklesschwert des >entweder Rettungsschirm oder Chaos< vor sich her und folgt willfährig und ohne Skrupel allen Vorgaben der Troika. Da die Zustimmung der Bevölkerung für ihre Politik auf ein historisches Tief gefallen und ihre Machtausübung demokratisch nicht mehr legitimiert ist, sieht sie ihren letzten Zufluchtsort im Windschatten der Vorgaben von außen. Dabei spielt sie auch noch ein doppeltes Spiel, denn so sehr sie sich ihren ausländischen Partnern gegenüber als unterwürfig gibt, schürt sie im Inland über die verschiedenen Kanäle die Ressentiments der Bevölkerung gegen >Merkel & Co.<. Konsequenterweise übertrug der Troika nicht nur die Oberhoheit über die griechischen Finanzen, sondern auch über die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die >Schuld< - so das Kalkül – für Vergangenheit und Gegenwart fällt auf die >Ausländer< und nicht auf sie selbst, die eigentlichen Verursacher. Abgesehen davon, daß die Regierung mit allen Mitteln versucht, jede Reform zu untergraben, um ihre Pfründe nicht zu gefährden, was ihr seit zwei Jahren ausgezeichnet gelingt. Das Ergebnis ihrer Politik führte dazu, daß Griechenland in gewisser Weise aufhörte zu existierten.

Der Verlust der Zukunft

Lange vor dem ökonomisch-wirtschaftlichen war der gesellschaftliche Niedergang Griechenlands deutlich zu erkennen und sein Ausmaß wurde schlagartig offenbar, als es im Dezember 2008 , ein Jahr vor Ausbruch der Krise, zu einem gewaltsamen Aufstand der Jugend kam. Die innere Unzufriedenheit mit dem Status Quo der Elterngeneration, der Frust über die soziale Kälte des Staates und insbesondere die als existentielle Bedrohung empfundene Perspektivlosigkeit entluden sich in einer bisher noch nicht da gewesenen explosionsartigen Protestwelle, die das ganze Land in ein Pulverfaß verwandelte. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die gesamte Generation der 17- bis 30jährigen Griechenland als ein Land ohne Zukunft wahrnahm, ein Land, das im Hinblick auf seinen Wohlstand, seine Kultur, seine soziale Entwicklung dem Untergang geweiht war.

Anlaß dieses Aufstandes war der Tod des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos am 6.12.2008, der nach Zeugenaussagen von einem Polizisten kaltblütig erschossen, nach Angaben der Polizei allerdings durch einen Querschläger aus der Waffe eines Polizeibeamten tödlich getroffen wurde. Alexis Grigoropoulos wurde zum Symbolfigur einer ausgestoßenen Generation. Ein emphatisches Dokument dieser Sinnkrise und Ausdruck der Auflehnung gegen eine vollkommen kommerzialisierte Alltagskultur ist der folgende Brief von Alexis´ Freunden, den sie bei seiner Beerdigung verteilten:

Wir wollen eine bessere Welt! Helft uns! Wir sind keine Terroristen, vermummten… Wir sind Eure Kinder! … Wir haben Träume – tötet sie nicht. Erinnert Euch! Ihr wart auch mal jung. Und jetzt rennt ihr nur noch Eurem Geld hinterher, interessiert Euch nur noch für Äußerlichkeiten, seid fett und glatzköpfig geworden, habt vergessen!

Wir dachten, Ihr würdet und unterstützen; wir dachten, es würde Euch kümmern, dachten, daß auch Ihr und mal stolz machen würdet. Vergebens!

Ihr lebt ein falsches Leben, laßt den Kopf hängen, habt die Hosen runtergelassen und wartet auf den Tag, an dem ihr sterbt. Ihr fantasiert nicht mehr, verliebt Euch nicht mehr, kreiert nicht mehr. Nur kaufen und verkaufen könnt ihr noch.

Überall nur Materielles. Nirgendwo Liebe – Nirgendwo Wahrheit. Wo sind die Eltern? Wo sind die Künstler? Wieso treten sie nicht hervor, uns zu schützen?

Man tötet uns! Helft uns!

Eure Kinder

PS: Werft kein Tränengas mehr. Wir weinen auch so.“



Asteris Kutulas (www.asteris-kutulas.de)

1960 in Oradea (Rumänien) als Sohn griechischer politischer Emigranten geboren; 1968 Übersiedlung nach Dresden; Abitur an der Kreuzschule; 1979 bis 1984 Studium der Germanistik in Leipzig; seit 1986 im europäischen Konzertmanagement tätig; seit 1981 zahlreiche Übersetzungen aus dem Griechischen (Ritsos, Elytis, Kavafis, Seferis, Theodorakis, Engonopoulos u.a.); Herausgeber der inoffiziellen Publikationsreihe "Bizarre Städte" (1987-1989) und der Zeitschrift „ Sondeur" (1990/91); seit 1989 Musik- und Eventproduzent, Autor und Filmemacher; lebt in Berlin. Sein 2013 fertig gestellter Film "Recycling Medea" handelt von der Kinder-mordenden Gesellschaft von heute (www.recycling-medea.com).


www.asteris-koutoulas.de, www.asti-blog.de, www.facebook.com/recycling.medea, www.recycling-medea.com





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Griechenland existiert nicht mehr
Bestandsaufnahme eines Niedergangs

Von Asteris Kutulas



Griechenland ist nicht nur wirtschaftlich bankrott, es steckt in einer tiefen kulturellen und politischen Identitätskrise. Große Teile der Bevölkerung, vom allem der Jugend, sind desorientiert, verelenden zunehmend und haben Zukunftsängste. Vier Jahre nach Ausbruch der aktuellen Krise ist jeder vierte Grieche arbeitslos, fast jeder Dritte lebt unter der Armutsgrenze, mehr als 25.000 Menschen sind ohne Obdach, über hunderttausend mittlere und kleine Betriebe und Geschäfte gingen in Konkurs oder mussten schließen, die Selbstmordrate schnellte dramatisch in die Höhe, 60% der Jugendlichen unter 25 finden keine Arbeit mehr, weswegen Zehntausende von ihnen das Land verlassen und ihr Glück in Australien, Deutschland, den USA und anderswo versuchen. Viele Ökonomen und Politiker sind inzwischen der Meinung, dass eine klare Insolvenz und die Rückkehr zur Drachme für Griechenland die einzige wirkliche Chance ist, wieder auf die Beine zu kommen. Da das aber nicht so günstig für die großen EU-Länder und die USA wäre, lässt man Griechenland einfach nicht bankrott gehen. Dennoch: ob mit dem Euro oder mit der Drachme, ob mit oder ohne Hilfe – das Land ist am Ende.


Millionen von Betroffenen stellten seit 2009 immer wieder drei ganz einfache Fragen:

1) Wie konnte es zu diesem totalen Niedergang der griechischen Gesellschaft kommen?

2) Wer ist schuld daran?

3) Wie geht es weiter?


Es gibt darauf folgende vom europäischen Establishment etablierte und von einem Teil der Öffentlichkeit und der Presse unentwegt reproduzierte Antworten:


- Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt.

- Die Griechen sind vor allem selbst und als Volk insgesamt schuld – sowohl die korrupte Regierung als auch die Bevölkerung, die sich hat korrumpieren lassen und eine endlose Party feierte, ohne zu fragen, was morgen kommt.

- Griechenland soll dem Folge leisten, was der IWF, die EZB und die EU (unter Deutschlands und Frankreichs Führung) festlegen.


Interessant ist, dass sich die letzten beiden griechischen Regierungen seit dem Ausbruch der Krise im Jahr 2009 bis zumindest Anfang 2012 diesem Antwort-Schema nicht nur angeschlossen, sondern es aktiv mit „Argumenten“ aufgefüttert, genährt und unterstützt haben. Den Höhepunkt dieser anti-griechischen Kampagne markierte folgende Erklärung des Vizepremiers Theodoros Pangalos vom 21.10.2010 im griechischen Parlament: „Auf die Frage der Menschen an uns: Wie konntet Ihr nur das ganze Geld ‚verprassen‘?, gibt es eine einfache Antwort: Wir haben Euch verbeamtet! Wir haben das alles zusammen ‚verprasst‘, in einem System politischer Vetternwirtschaft, Korruption und Veruntreuung von Steuergeld.“ Übrigens war diese Erklärung überhaupt nicht selbstkritisch, sondern ausschließlich anklagend gemeint. Auch bezeichnete der selbe Minister seine griechischen Mitbürger in öffentlichen Verlautbarungen wiederholt als „faul“ und „korrupt“. Nachdem Hunderttausende „Empörte“ sich wochenlang in der griechischen Innenstadt versammelten, äußerte er am 23.10.2011 im französischen Canal5, es handele sich bei diesen Demonstranten um „Kommunisten, Faschisten und Wichser“. Es entsprach der politischen Kultur der PASOK-Partei und des damaligen Regierungschefs Giorgos Papandreou, dass sie zu keinem Zeitpunkt den Rücktritt eines solchen Politikers verlangten und dass dieser obendrein als Vizepremier in das Regierungskabinett von Loukas Papademos übernommen wurde. Abgesehen davon, dass Theodoros Pangalos’ Aussage, alle zusammen hätten das Geld verprasst, sachlich falsch war, offenbart seine populistisch-herablassende Haltung auf bezeichnende Art und Weise den systematischen Versuch der herrschenden Kaste, das Volk als den eigentlich „Schuldigen“ erscheinen zu lassen, um von der eigenen politischen Verantwortung abzulenken mit einem einzigen Ziel: weiter regieren zu können.


Es gibt natürlich noch eine Vielzahl anderer Erklärungen, die man immer wieder lesen oder hören kann: Schuld an der Krise seien nicht die Griechen, sondern „das internationale Finanzkapital“, das „Lobby-Netzwerk der amerikanischen Bank Goldmann Sachs“, „die Heerscharen von Ausländern, die Griechenland überflutet haben“ oder „der IWF und die US-Regierung“ oder „der Geheimbund Bilderberg“ oder die „Europäische Union“ oder „das kapitalistische System“ oder „Deutschland“ oder all das zusammen etc. etc. Das führt dazu, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Und als ich am 23.1.2012 während einer Podiumsdiskussion zur griechischen Krise in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin zwei griechische Wirtschaftsprofessoren erlebte, die in ihren Analysen, basierend auf denselben Zahlen, zu absolut gegensätzlichen Schlussfolgerungen gekommen waren, wurde mir klar, dass selbst anhand von Statistiken keine in irgend einer Form verlässlichen Urteile mehr gefällt werden konnten. Peter Sloterdijk kommentiert diesen gesellschaftlich-kommunikativen Zustand unseres Krisen-Zeitalters wie folgt: „Wir können fast nirgendwo mehr auf die Faktenebene durchgreifen, weil es zu jeder Darstellung der Tatbestände durch einen Experten 36 Gegendarstellungen gibt ... Der Beitrag der Politiker zur Konfusion besteht in der Entwicklung eines hypnotischen rhetorischen Regimes.“


Tatsache ist, dass am Patienten „griechische Gesellschaft“ nicht nur ununterbrochen scheinbar je nach Lust und Laune operiert wurde, sondern größtenteils, ohne die Symptome der Krankheit diagnostiziert bzw. sie ganz bewusst nur willkürlich diagnostiziert zu haben. Es wurden Rezepte aus der Schublade gezogen, die weder dazu taugten, die Ursachen der Krankheit zu bekämpfen, geschweige denn, diese Krankheit zu heilen.


Ein ARD-Korrespondent in Athen erklärte während einer Tagesschau-Sendung, dass die Griechen durchaus bereit wären, den Gürtel noch viel enger zu schnallen, aber unter zwei Voraussetzungen: Erstens sollten die für die Krise Verantwortlichen bestraft werden, und zweitens solle der Staat endlich für Gerechtigkeit sorgen und auch diejenigen zur Kasse bitten, die niemals Steuern gezahlt haben und somit in gewisser Weise über dem Gesetz standen. Ganz abgesehen davon, dass man inzwischen den Gürtel kaum noch enger schnallen kann, so ist es eine Tatsache, dass Millionen von der Krise betroffene griechische Bürger bereits seit Anfang 2010 von ihrer Regierung Aufklärung darüber fordern, wie und durch wen das Land in diese Situation geraten konnte.


Erst als die PASOK-Regierung Ende 2011 abgelöst wurde, die Macht an den Technokraten Loukas Papademos überging und Griechenland kurz davor war, in den Abgrund, an dessen Rand es bis dahin gestanden hatte, zu springen, vernahm die griechische Bevölkerung niemals zuvor gehörte Schuldbekenntnisse zweier Regierungsvertreter, nämlich die des Ex-Premiers Papandreou und des amtierenden Finanzministers Evangelos Venizelos. Und das an dem Tag, an dem das zweite „Sparpaket“ verabschiedet werden sollte, mit dem zugleich eine radikale Verelendung breiter Bevölkerungsschichten beschlossen wurde. Die Umfragewerte der 2009 mit 44% ins Parlament gewählten Regierungspartei PASOK waren inzwischen auf 8% gefallen. Erst in diesem Augenblick hielten die führenden sozialistischen Politiker den Zeitpunkt für gekommen, sich Asche aufs Haupt zu streuen. Tatsächlich brachte der sowohl unter Giorgos Papandreou als auch in der Regierung Lukas Papademos amtierende Finanzminister Elefterios Venizelos folgendes über die Lippen: „Unser Land steht vor einem tragischen Dilemma und kämpft ums Überleben. Das wahre nationale Problem besteht darin, dass wir Jahrzehnte verloren haben. Wir waren nicht in der Lage, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen. Wir waren nicht in der Lage, eine selbständige Wirtschaft aufzubauen. Wir konnten die Zukunft unserer Kinder nicht absichern und führten das Land in eine Situation der Ausweglosigkeit.“ Treffender konnte man die Bankrott-Erklärung der griechischen Politik und der beiden seit 1974 abwechselnd herrschenden Parteien PASOK und ND nicht auf den Punkt bringen. Zwar hatte sich niemals zuvor ein Regierender dergestalt geäußert, aber diese Erklärung kam zu spät, und dass sie überhaupt gegeben wurde, geschah einzig und allein aus politischem Kalkül. Es ging um den persönlichen Machterhalt, um nichts anderes. Evangelos Venizelos hatte nichts mehr zu verlieren und versuchte aus dieser ausweglosen Situation erneut Gewinn zu ziehen, indem er sich als Weißer Ritter aufspielte, um wenige Wochen später Giorgos Papandreou als PASOK-Vorsitzender abzulösen, und eine Regierungskoalition mit der konservativen Neuen Demokratie einzugehen.


Sowohl Theodoros Pangalos als auch Evangelos Venizelos, aber auch Giorgos Papandreou, Konstantin Karamanlis, Dora Bakojanni oder Antonis Samaras, sie alle stammen aus Politikerfamilien, die teilweise seit 100 Jahren das gesellschaftliche System Griechenlands beherrschen. Sie symbolisieren das alteingesessene, korrupte, marode, reformresistente Establishment von Vetternwirtschaft und Klientelismus, sie haben es beständig weiter gestärkt und gefestigt und damit in Griechenland quasi die Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinn abgeschafft. Sie alle gehören zu den wenigen „Herrscherfamilien“, die neben diversen Großverlegern, Reedern und Berufspolitikern die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Landes bestimmten. Etwa 400 Menschen treffen in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 alle ökonomischen und politischen Entscheidungen, und viele von ihnen bereicherten sich auf Kosten der Allgemeinheit auf die eine oder andere Art und Weise, wobei sie sich dabei auch an EU-Geldern in Form von Provisionen, Kick-Backs, auf dem Umweg über Scheinfirmen und sogar durch unverhohlenen Betrug bedienten. Dieses extrem parasitäre Establishment konnte sich an der Macht halten, weil es unentwegt dafür sorgte, sich eine politikhörige und untertänige Staatsanwaltschaft sowie eine korrupte Finanz- und Steuerbehörde heranzuzüchten und diese am Leben zu erhalten, was jeglichen Ausbruch aus dem bestehenden „System“ unmöglich machte. Zudem stützte sich dieses System auf eine durch die geduldete Steuerhinterziehung und andere Privilegien gehätschelte parasitäre „Oberschicht“, bestehend aus Kommunalpolitikern, Top-Rechtsanwälten, Gewerkschaftsbossen, „Star-Journalisten“, Ärzten, auserwählten Unternehmern und Landwirten. „Freie Wahlen“ waren zugelassen, aber viele Stimmen wurden gegen Vergünstigungen (rousfeti) jeglicher Art gehandelt, was hauptsächlich die Verbeamtung einer Anzahl von „treuen Wählern“ oder deren Familienangehörigen bedeutete.

Dadurch wurde nicht nur ein Teil der Bevölkerung „korrumpiert“ und „politisch fanatisiert“, sondern auch „mitschuldig“ gemacht am Verfall der Werte und des sozialen Gefüges. Im Laufe der letzten 40 Jahre änderte sich dadurch das soziale Verantwortungsgefühl vieler Griechen, und es überwog immer mehr das Streben, zu den „Neureichen“ zu gehören, ein grenzenloser Egoismus, der von der herrschenden Kaste befördert und zum obersten Prinzip der neoliberalen griechischen Gesellschaft erhoben wurde. Wer sich darauf nicht einlassen wollte, hatte kaum Aufstiegschancen. Vom Ausmaß der Korruption zeugen an der Spitze des Eisbergs der Koskotas-, der Siemens-, der Ferrostaal- und der Protonbank-Skandal, das Vathopedi-Desaster, die dubiosen Waffengeschäfte griechischer Politiker und Beamter sowie Tausende nicht verfolgter und nicht aufgeklärter Skandale.

Hinzu kommt, dass die seit 1974 herrschende Politikerkaste den fast unbegrenzten Einfluss ausländischer und ungezügelter nationaler wirtschaftlicher Interessen zugelassen und darauf ihre Macht gestützt hat, ohne jemals auch nur ansatzweise eine eigenständige nationale griechische Politik zu verfolgen. Die Ergebnisse sind schockierend. Das Land befindet sich seit 2008 in einem rasanten Niedergang – nicht nur in finanzieller und struktureller, sondern auch in moralischer und kultureller Hinsicht. Vierzig Jahre PASOK/Nea Demokratia-Regierungen führten 2012 zu folgenden unzweifelhaften Ergebnissen:

1) Griechenland ist bankrott.

2) Der Staatsapparat verharrt in einem desolaten Zustand – es besteht keine Steuergerechtigkeit, das Gesundheitswesen ist marode, das Bildungswesen gehört zu den weltweit schlechtesten, das Rechtswesen ist unzureichend entwickelt, die Sicherheit der Bürger kann nicht mehr garantiert werden, die Verwaltung arbeitet absolut ineffizient und korrupt.

3) Griechenland hat keine Perspektive, so dass Hunderttausende junge Griechen ihr Land verlassen, um sich im „Westen“ eine neue Zukunft aufzubauen.

4) Griechenland ist im Resultat der Politik der letzten 40 Jahre zur „Zwangsversteigerung“ gezwungen, es muss also sein gesamtes Staatseigentum zu einem Bruchteil des Wertes an Privatpersonen, Konzerne und Investoren aus dem Ausland verkaufen.

5) Griechenland betreibt seit vielen Jahren keine unabhängige, national orientierte Außen- und Sicherheitspolitik und steht darum vor etlichen ungelösten Problemen mit seinen Nachbarländern (Türkei, Albanien, Mazedonien/FYROM) und mit der NATO.

6) Das internationale Ansehen Griechenlands ist fundamental und nachhaltig beschädigt, was sich in der negativen Presse widerspiegelt, die die griechischen Verhältnisse reflektiert und die Griechen im Allgemeinen beurteilt.

Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Politikerkaste hat nicht nur dazu beigetragen, dass sich die Mentalität und die Wertevorstellungen der griechischen Gesellschaft und besonders der jeweils jungen Generation innerhalb der letzten 40 Jahre immer mehr zugunsten eines ausgeprägten Konsum- und Wohlstandsdenkens veränderten, sondern sie hat vor allem wirtschaftlichen und ausländischen Interessen gedient, anstatt eigene strategische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Griechenlands Wirtschaft und seinen Dienstleistungssektor schrittweise hätten stärken können.

Im Ergebnis dieser – rein privaten Interessen folgenden – Politik wurde Griechenland 2010 der Herrschaft von IWF, EZB und EU (Troika) unterstellt, die mehrere so genannte „Rettungsschirme“ aufspannten und weiterhin aufzuspannen gewillt sind. Inzwischen ist Griechenland dauerhaft auf Finanzspritzen von außen angewiesen, allerdings – so lautet das Diktat der Troika – um seine Schulden (an die großen europäischen Banken) bezahlen und seine Zinsen bedienen zu können, nicht, um seine Krise zu bewältigen. Die alteingesessene gescheiterte Politikerkaste Griechenlands unterstützt vorbehaltlos die Übernahme der Herrschaft über das Land durch eine ausländische Macht, da dies die einzige Chance ihres eigenen Überlebens darstellt. Deshalb trägt sie innenpolitisch das Damoklesschwert des „entweder Rettungsschirm oder Chaos“ vor sich her und folgt willfährig und ohne Skrupel allen Vorgaben der Troika. Da die Zustimmung der Bevölkerung für ihre Politik auf ein historisches Tief gefallen und ihre Machtausübung demokratisch nicht mehr legitimiert ist, sieht sie ihren letzten Zufluchtsort im Windschatten der Vorgaben von außen. Dabei spielt sich auch noch ein doppeltes Spiel, denn so sehr sie sich ihren ausländischen Partnern als willfährig gibt, schürt sie im Inland über die verschiedensten Kanäle die Ressentiments der Bevölkerung gegen „Merkel & Co.“. Konsequenterweise übertrug sie der Troika nicht nur die Oberhoheit über die griechischen Finanzen, sondern auch über die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die „Schuld“ – so das Kalkül – für Vergangenheit und Gegenwart fällt auf die „Ausländer“ und nicht auf sie selbst, die eigentlichen Verursacher. Abgesehen davon, dass sie mit allen Mitteln versucht, jede Reform zu untergraben, um ihr Pfründe nicht zu gefährden, was ihr seit zwei Jahren ausgezeichnet gelingt. Wie dem auch sei, das Ergebnis ihrer Politik führte dazu, dass Griechenland in gewisser Weise aufhörte zu existieren.



Der Verlust der Zukunft


Lange vor dem ökonomisch-wirtschaftlichen war der gesellschaftliche Niedergang Griechenlands deutlich zu erkennen und sein Ausmaß wurde schlagartig offenbar, als es im Dezember 2008, ein Jahr vor Ausbruch der Krise, zu einem gewaltsamen Aufstand der Jugend kam. Die innere Unzufriedenheit mit dem Status Quo der Elterngeneration, der Frust über die soziale Kälte des Staates und insbesondere die als existenzielle Bedrohung empfundene Perspektivlosigkeit entluden sich in einer bisher noch nicht da gewesenen explosionsartigen Protestwelle, die das ganze Land in ein Pulverfass verwandelte. Das geschah zu einem Zeitpunkt, da die gesamte Generation der 17- bis 30jährigen Griechenland als ein Land ohne Zukunft wahrnahm, ein Land, das im Hinblick auf seinen Wohlstand, seine Kultur, seine soziale Entwicklung dem Untergang geweiht war.

Anlass dieses Aufstandes war der Tod des 15jährigen Alexis Grigoropoulos am 6.12.2008, der nach Zeugenaussagen von einem Polizisten kaltblütig erschossen, nach Angaben der Polizei allerdings durch einen Querschläger aus der Waffe eines Polizeibeamten tödlich getroffen wurde. Wie auch immer, Alexis Grigoropoulos wurde zur Symbolfigur einer ausgestoßenen Generation. Ein emphatisches Dokument dieser Sinnkrise und Ausdruck des Protestes gegen eine vollkommen kommerzialisierte Alltagskultur ist der folgende Brief von Alexis’ Freunden, den sie bei seiner Beerdigung verteilten:

 

Wir wollen eine bessere Welt! Helft uns! Wir sind keine Terroristen, Vermummten ... WIR SIND EURE KINDER! ... Wir haben Träume – Tötet sie nicht. ERINNERT EUCH! Ihr wart auch mal jung. Und jetzt rennt ihr nur noch Eurem Geld hinterher, interessiert Euch nur noch für Äußerlichkeiten, seid fett und glatzköpfig geworden, habt VERGESSEN!

Wir dachten, ihr würdet uns unterstützen; wir dachten, es würde euch kümmern,

dachten, dass auch ihr uns mal stolz machen würdet. VERGEBENS!

Ihr lebt ein falsches Leben, lasst den Kopf hängen, habt die Hosen runtergelassen und wartet auf den Tag, an dem ihr sterbt. Ihr fantasiert nicht mehr, verliebt euch nicht mehr, kreiert nicht mehr. Nur kaufen und verkaufen könnt ihr noch. ÜBERALL NUR MATERIELLES. NIRGENDWO LIEBE – NIRGENDWO WAHRHEIT. Wo sind die Eltern? Wo sind die Künstler? Wieso treten sie nicht hervor, uns zu schützen? MAN TÖTET UNS! HELFT UNS!

EURE KINDER

PS: Werft kein Tränengas mehr. Wir weinen auch so.“


Wochenlang gingen zehntausende Schüler und Studenten auf die Straße, besetzten Schulen und Universitäten. Dabei handelte es sich nicht um vereinzelte Proteste, sondern das war ein wütender Aufstand der Jugend, der sich auf das ganze Land ausweitete. Mit einem Mal wurden der tiefe Generationskonflikt und der Unmut der jungen Griechen im Hinblick auf die sozialen Zustände des Landes sichtbar. Die Ursache für den damaligen Jugendaufstand lag darin, dass diese so genannte „700-Euro-Generation“ (und heutige „400-Euro-Generation“) schon zu diesem Zeitpunkt keine gesellschaftliche Perspektive mehr hatte. Selbst für die zumeist gut ausgebildeten Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten gab es kaum Arbeitsplätze, und wenn, dann waren diese schlecht bezahlt und oft bestanden keinerlei Aufstiegschancen. Die Jugend erlebte tagtäglich, dass sie nicht „gebraucht“ wurde, egal wie viel Zeit, Kraft und Geld sie und ihre Familien in ihre Ausbildung investiert hatten. Für sie war kein Platz mehr in einem Land, das bis 2007 mit die höchsten Entwicklungsraten in der EU aufwies. Die jungen Erwachsenen waren gezwungen, bei ihren Eltern wohnen zu bleiben – im Ausland oft belächelt als diejenigen, die scheinbar nicht imstande waren, sich aus dem „Hotel Mama“ zu verabschieden. Tatsächlich aber konnten die meisten von ihrem geringen Gehalt nicht mal die Miete für eine 1-Raum-Wohnung bezahlen. Offenbar hatte das Griechenland ihrer „neureichen“ Eltern sie abgeschrieben, sie waren lediglich geduldete Gäste und empfanden sich als „heimatlose“ Griechen in einem dem Verfall preisgegebenen Land. Bereits ein Jahr später brach die größte ökonomische Krise der letzten 50 Jahre aus.

Wiederholt wurde in den Jahren nach 2009 in Griechenland davon gesprochen, dass das Land „zurückgebombt wird auf das Niveau der 60er Jahre“. In den 60er Jahren waren Hunderttausende Griechen gezwungen, ihr Land als Gastarbeiter zu verlassen, um der Armut und einem instabilen politischen System zu entkommen. Seit 2010 tendiert die Situation wieder in dieselbe Richtung. Die Menschen konnten scheinbar nur wählen zwischen völliger Verarmung, „Chaos“ und der Drachme oder völliger Verarmung, „europäischer Ordnung“ und dem Euro. Erstere Möglichkeit ist eine hypothetische, die zweite inzwischen Realität. Tausende, vor allem junge Griechen flohen aus ihrer Heimat. Dieser Aderlass an kreativem Potenzial besiegelt über kurz oder lang den Zukunftsverlust des Landes. Zum selben Resultat führt die Stadtflucht. Viele sehen als letzte Alternative den Umzug in die Dörfer ihrer Vorfahren, um dort Landbau zu betreiben und zu versuchen zu überleben. Für eine Gesellschaft, in der die elterliche Fürsorge traditionell einen hohen Stellenwert hat, sind das tragische Zustände, zumal die Eltern-Generation der heute 40- bis 60jährigen großen Anteil daran hat, dass ihre Kinder einer traumatischen Perspektivlosigkeit ausgeliefert sind. 

Zugespitzt lässt sich sagen: Griechenland hat – infolge der Regierungspolitik der letzten vierzig Jahre und bedeutender ausländischer Faktoren – seine junge Generation verloren und damit seine Zukunft. Seine Geschichte wird umgeschrieben; somit verliert das Land seine Vergangenheit. Seine nationale Identität ist infrage gestellt. Es hat die Fähigkeit verloren, sich in der Gegenwart behaupten zu können. Das wirft nicht nur die Frage auf, ob es Griechenland überhaupt noch gibt, sondern vor allem auch, ob es sich überhaupt noch einmal neu erfinden kann. Und ob es in diesem Prozess Verbündete hat oder auf sich allein gestellt ist.

Asteris Kutulas

Berlin, 2013

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