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Ein neuer Weg zur neuen Regierung

Wenn es also rechnerisch nur mit der Linkspartei reicht, steht eines fest: Auf der Grundlage der zum Jahreswechsel 2012/2013 vorgegebenen Linie des Kandidaten Steinbrück geht gar nichts: Er wird, und das kann man ihm glauben, nicht mit der Linkspartei regieren. Und doch soll hier versucht werden, eine alternative Möglichkeit der Mehrheitsbildung aufzuzeigen, die die Einleitung einiger wichtiger Reformen ermöglichen würde, von Schritten zu einem solidarischen Europa über einen gerechten Umbau der Sozialsysteme bis hin zu einer stärker als bisher friedensorientierten Außenpolitik.

Es gibt im deutschen Grundgesetz keinen Artikel, der vorschreiben würde, was wir seit Jahrzehnten gewohnt sind: Nach einer Wahl setzen sich zwei oder drei Parteien zusammen und formulieren nach langem Hin und Her einen Koalitionsvertrag, in dem am besten geregelt ist – von der Beseitigung des „LKW-Stellplatzdefizits“ bis hin zum „Managementplan für Kormorane“. Nicht dass all das unwichtig wäre. Die Frage ist eher ob Politik sich auf alles und jedes festlegen muss, wenn nicht einmal zentrale Vorhaben wie – glücklicherweise! – die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke die Legislaturperiode überstehen.

Im Grundgesetz (Artikel 63, Absatz 1) steht vielmehr Folgendes: „Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.“ Erreicht der Kandidat oder die Kandidatin nicht die absolute Mehrheit, dann gibt es einen zweiten Durchgang ohne Vorschlag des Bundespräsidenten, und wenn auch der keinen Kanzler erbringt, genügt sogar die einfache Mehrheit.

Die gegenwärtige Praxis besteht darin, sich für vier Jahre festzulegen auf eine bestimmte Koalition, deren Abgeordnete dann möglichst alles Beschlüsse dieser Regierung abzunicken haben. Es gibt allerdings keinen zwingenden Grund, sie beizubehalten – es sei denn, man hielte die stetigen Warnungen unserer Politiker vor „instabilen“ Verhältnissen für stichhaltig und die in anderen Ländern wie Dänemark oder Australien geübte Praxis, Mehrheiten im Parlament je nach Inhalt eines Gesetzesentwurfs zu suchen, für einen Fluch. Oder das erfolgreiche Experiment der SPD-Politikerin Hannelore Kraft, die von 2010 bis 2012 mit Rot-Grün ohne absolute Parlamentsmehrheit regierte. Und zwar so erfolgreich, dass ihre Koalition bei der Neuwahl 2012 diese Mehrheit gewann.

In der Regel nutzt das starre deutsche System vor allem den jeweils regierenden Parteien, nicht aber unbedingt den Bedürfnissen des Landes. Deshalb hier der Appell, die Praxis zu ändern – und das parlamentarische System auch für Wähler, die es tragen sollen, wieder attraktiver zu machen als mit dem üblichen Taktieren und „Durchregieren“ der jeweiligen Koalition.

Wenn es also für eine rot-grüne Mehrheit nicht reicht, sollte ein Kandidat der SPD – ob er nun Steinbrück heißt oder nicht – im Parlament gegen Angela Merkel zur Kanzlerwahl antreten. Diese Wahl sollte vielleicht nach Gesprächen unter den Parteien stattfinden, aber ohne vorherige Vereinbarung einer Koalition. Der Wahlakt wäre, endlich einmal, wirklich offen und nicht nur Akklamationszeremonie einer vorher vertraglich festgelegten Koalition für ihre Kanzlerin oder ihren Kanzler. Im Ergebnis der Wahl würde sich die reale Mehrheit abbilden, über die der siegreiche Kandidat für seine wichtigsten Aussagen und Projekte verfügt. Die Mehrheiten für die konkreten Gesetze und Beschlüsse müsste er sich dann im Einzelfall suchen, und zwar in offenen Verhandlungen mit den dafür in Frage kommenden Parteien.

Natürlich wäre es dann auch damit vorbei, dass Koalitionsmehrheiten im Parlament einfach entlang der Parteizugehörigkeit über komplexe Gesetze abstimmen, die sie nicht einmal verstehen – wie bei der „Eurorettung“ mehrfach geschehen. Aber gerade darin, diese Routine aufzubrechen, bestünde der Aufbruch: hin zu einem Parlament, das seinem Anspruch wieder gerecht wird, zentraler Ort demokratischer Aushandlungsprozesse zu sein. Dass das geht, wenn es nötig ist, hat übrigens die Regierung Merkel selbst bewiesen, wenn auch ungewollt: Als sie die Stimmen aus der Opposition wirklich benötigte, war auch Zeit zu verhandeln – etwa beim europäischen Fiskalpakt.

Wagt die bisherige Opposition, wagt vor allem die SPD das Experiment der Kanzlerwahl ohne feste Koalition, dann könnte sich zeigen, für welchen Politikentwurf die demokratisch gewählte Mehrheit der Volksvertretung im Grundsatz steht. Und angesichts der inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den Parteien der bisherigen Opposition gäbe es eine begründete Hoffnung, dass Angela Merkel abgewählt wird. Mit anderen Worten: dass sie die Blamage erfährt, die sie verdient.

Aus: Mutter Blamage - Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht, Stefan Hebel, Westend Verlag, 2013

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