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Ägyptischer Neubeginn?


Der Militärputsch, mit dem Ägyptens erster demokratisch gewählter Präsident gestürzt wurde und der überall im Land zur Verhaftung von Führern der Muslimbruderschaft führte, birgt eine enorme Gefahr – nicht nur für den demokratischen Wandel in Ägypten, sondern auch für die demokratischen Hoffnungen der gesamten arabischen Welt.

Die massive öffentliche Unterstützung, mit der der Putsch erfolgte, zeigt, vor welchen enormen Schwierigkeiten die Muslimbruderschaft nach ihrer ersten Regierungsübernahme stand. Präsident Mohammed Mursis Regierung tat sich schwer, die wirtschaftliche und soziale Krise im Lande, die sie vom Mubarak-Regime geerbt hatte, zu bewältigen. Zudem waren die öffentlichen Erwartungen im Gefolge der Revolution von 2011 enorm: Deren Protagonisten strebten nicht nur Freiheit, sondern auch wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit an. Natürlich war die Muslimbruderschaft auch ein Opfer ihrer eigenen Fehler – insbesondere des Versäumnisses Mursis, auf die säkulare Opposition zuzugehen, von der Teile zu seiner Wahl beigetragen hatten. Die Regierung Mursi hatte nicht verstanden, dass ein Knapper Wahlsieg nicht ausreicht – schon gar nicht in diesen Tagen.

Die Breite der Opposition gegen Mursi spiegelt die globale Entwicklung wider, wonach die gebildeten, gut vernetzten Mittelschichten, die den politischen Parteien eher misstrauisch gegenüber stehen, direktere politische Teilhabe verlangen. In diesem Sinne unterscheiden sich Ägyptens Schwierigkeiten nur in ihrem Umfang, nicht aber ihrem Inhalt nach von jenen, denen die Regierungen der Türkei, Brasiliens und sogar in Europa gegenüberstehen.

Mursis Muslimbruderschaft dominierte die Regierung von Anfang an. Doch sah sie sich zugleich dem Widerstand einer Vielzahl anderer, deutlich weniger demokratisch eingestellter Kräfte ausgesetzt- darunter Überbleibsel von Hosni Mubaraks Regime, die weiter ihren Einfluss geltend machten. So löste die Justiz etwa das erste gewählte Parlament auf und der Innenminister weigerte sich die Zentrale der Bruderschaft vor wiederholten Anschlägen zu schützen. Zudem verteufelten einige säkulare Intellektuelle die Bruderschaft: Sie sehen kein Problem in der Unterdrückung der Islamisten – ähnlich wie ihre algerischen Pendants, die 1992 der Annullierung des islamistischen Wahlsieges durch die algerische Armee zustimmten. Im Anschluss daran kam es zu jahrelangen Kämpfen, die schätzungsweise einer halben Million Menschen das Leben kosteten.

Darüber hinaus sahen sich Mursi und die Muslimbruderschaft der Konkurrenz ultrakonservativer Salafisten ausgesetzt, die von den Saudis unterstützt werden. Tatsächlich traten diese am Abend des Putsches zusammen mit der Militärführung und dem säkularen politischen Führer Mohamed El Baradei auf, um Mursis Sturz bekannt zu geben.

Die Aussichten auf einen demokratischen Wandel in Ägypten sind zunehmend schwieriger einzuschätzen, aber eins ist klar: Man kann und darf dem Militär nicht trauen. Nach dem Sturz Mubaraks, als die Armee die uneingeschränkte Macht inne hatte, wurden rund 12 000 Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt, Frauen – insbesondere jene, die gegen das Militär protestierten – zu Jungfräulichkeitstests gezwungen und Demonstranten getötet. Natürlich ist es möglich, dass Soldaten den Übergang zur Demokratie sichern, so wie sie es vor vier Jahren in meinem Heimatland Portugal nach dem Sturz der Salazar-Caetano-Diktatur taten. Doch die Erfahrungen mit militärgeleiteten Reformen sind ansonsten schlecht: Man kann verkünden, dass ein Putsch aus Gründen der Demokratie erfolgte, doch damit ist der Prozess des Wandels erst einmal gestoppt. Zudem scheint die ägyptische Armee vielmehr daran interessiert, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu schützen, als die Vorzüge einer zivilen Regierung, die auf die Bedürfnisse der Bürger reagiert.

Vertrauen sollte man hingegen weiterhin den jungen Ägyptern und ihren Forderungen nach Freiheit und Demokratie – Forderungen, die die Anti-Mubarak-Bewegung mit jenen Demonstrationen verknüpft, die zur Amtsenthebung Mursis führten. Das vorherrschende Ziel sollte darin bestehen, die Herausbildung einer pluralistischen ägyptischen Gesellschaft zu unterstützen, die die Rechte aller politischen Teilhabe sowie freie und gleiche Wahlen verteidigt. Dieses Ziel erfordert heute Widerstand gegen jede Mubarakartige Unterdrückung der Muslimbruderschaft.

Nach dem Putsch zeigte die Europäische Union eine ambivalente Haltung. Auch dies erinnert an Algerien 1992, als die meisten europäischen Regierungen die Annullierung des islamistischen Wahlsiegs unterstützten. (Ebenso weigerte sich die EU, den Wahlsieg der Hamas in Gaza im Jahr 2006 anzuerkennen.) Vor allem wegen ihrer anhaltenden Furcht vor dem politischen Islam, unterstützen große Teile des Westens diktatorische Regime. Heute sollten die EU und die USA die Freilassung aller Mitglieder der Muslimbruderschaft – einschließlich Mursis – und die Einbeziehung der Bruderschaft in die Ösng der ägyptischen Krise fordern.

Die internationale Gemeinschaft sollte sich zudem über die regionalen Auswirkungen des Putsches sorgen. Dass ausgerechnet der syrische Präsident Baschar al-Assad den Putsch befürwortet, zeigt deutlich, dass einige den derzeitigen Kampf in der arabischen Welt in einen blutrünstigen Wettstreit zwischen Islamisten und Säkularisten verwandeln wollen.

Langfristig würde jede Verfolgung der Bruderschaft dazu führen, dass deren Mitglieder und Anhänger – die schon jetzt zutiefst von der Demokratie enttäuscht sind – Wahlen komplett ablehnen. Dies könnte äußerst negative Auswirkungen auf islamistische Bewegungen in anderen Staaten haben. Viele sehen schon jetzt jene Extremisten bestätigt, die die Bruderschaft und andere islamistische Parteien dafür kritisieren, dass sie einen demokratischen Weg zur Macht verfolgen - und es ist nicht ausgeschlossen, dass nun eine neue Welle der Gewalt in der Region beginnt.

Noch aber besteht Hoffnung, dass Ägypten dem Schicksal Algeriens 1992 entgeht – allerdings nur, wenn die Grundrechte der Mitglieder der Muslimbruderschaft geschützt werden. US-Präsident Barack Obama, der sich tief besorgt über den Sturz Mursis zeigte, ist vielleicht der einzige Staatsmann, der in dieser Situation vermitteln und einen Bürgerkrieg verhindern könnte. Dazu muss er allerdings alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel nutzen, einschließlich der angedrohten Reduzierung der enormen US-Hilfe für die ägyptischen Streitkräfte. Zudem kann er auf jene Vertrauensreserve zurück greifen, die er durch sein Zugehen auf die Bruderschaft während der Präsidentschaft Mursis erreicht hat. Aber wird Obama die Initiative ergreifen? Seine Rede in Kairo im Jahre 2009 – die einen „Neubeginn“ in der Region forderte – hat in der arabischen Welt viele Menschen inspiriert. Nun ist es an der Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen.

Álvaro de Vasconcelos ist Projektdirektor der Arab Reform Initiative, ehemals Direktor des Instituts für Sicherheitsstudien der Europäischen Union in Paris.

Übersetzung Jan Doolan

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