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Die zynische Idylle

Tierschutz ist seit zehn Jahren Staatsziel, nationaler Handlungsauftrag. Doch Ministerin Ilse Aigner ignoriert die Missststände in der Massentierhaltung.

Von Renate Künast

Im Alter von etwa 25 Tagen kippen manche Mastenten einfach um. Ihr schnell zunehmendes Körpergewicht ist für die Entenbeine untragbar geworden. Auf dem Boden liegend verdursten die Tiere. Langsam. 25 Millionen Pekingenten werden jährlich in deutschen Mastbetrieben „gestopft“. Wie viele davon nicht für 3,69 Euro das Kilo im Kühlregal landen, weil sie schon vorher qualvoll verendet sind, ist nicht bekannt. Dies ist der jüngste Schreckensbericht, den eine Tierschutzorganisation nun publik gemacht hat.

Tatsächlich ist die Tierhaltung ein immerwährender Skandal. Tiere, die wir essen und als Grundlage unserer Ernährung dienen, werden eingepfercht ohne jeden Anspruch auf ihre eigenen Grundbedürfnisse. Frische Luft, ausreichend Platz und Auslauf, genügend Wasser, Ruhe – das ist das mindeste, was Tieren zustehen muss. Aber es werden immer wieder Ställe gebaut. IN der Geflügelmast sind mittlerweile Ställe mit 40 000 Tieren der Normalfall, wenige große Konzerne teilen den Markt untereinander auf.

Blickwechsel: Ein beliebter Innenstadtbezirk Berlins. Auf einem ehemaligen Schlachthofgelände sind begehrte Stadthäuser entstanden. Eine nette Wohngegend. In den kleinen Gärten wird am Wochenende gerne gegrillt. Aber wie hat das Tier gelebt, bevor es als Fleisch auf Grill und Tellern landet? Viele haben diese Frage immer weiter verdrängt, genauso wie die Schlachthöfe in den letzten Jahrzehnten aus der Stadt ins entfernte Umland gewandert sind. Es interessieren im Grunde nur noch Einkaufspreise und Geschmack. Aufrütteln können nur unsere eigenen Gesundheitsgefahren. Haben wir mit dem Leid der Tiere nichts zu tun?

Zehn Jahre ist es her, dass der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit den Tierschutz in das Grundgesetz aufgenommen hat. Rechtlich hat sich damit Grundlegendes geändert: Tierschutz ist Staatsziel, nationaler Handlungsauftrag. De facto hat sich aber seitdem so gut wie nichts getan.

In Deutschland werden jährlich ungefähr 114 Millionen Hühner, 11,5 Millionen Schweine und 12,5 Millionen Rinder gehalten, und zwar größtenteils unter Bedingungen, die wir nicht akzeptieren dürfen. Die Massentierhaltung folgt einer einzigen Logik: immer mehr und immer billiger Fleisch produzieren, auf Kosten der Tiere. Weil es wirtschaftlicher ist, passen Mastbetriebe unsere Mitlebewesen an die Haltungssysteme an, amputieren Schnäbel, kürzen Schwänze, stutzen Flügel. Mastschweine stehen ihr Leben lang auf Beonspaltböden. Die ständige Belastung sowie schlechte hygienische Bedingungen führen häufig zu schmerzhaften Verletzungen und Entzündungen. Legehennen werden noch bis 2035 in unangemessener Beengtheit fristen müssen, weil die Bundesregierung 23 Jahre für einen angemessenen Übergangszeitraum hält.

Bundesministerin Ilse Aigner ignoriert die Missstände in der Massentierhaltung. Ihre im Mai von der Bundesregierung beschlossene Novelle des Tierschutzgesetzes wird dem Anspruch des Gesetzes aus seinem ersten Artikel nicht gerecht, „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.“ Damit verpasst sie die Gelegenheit, tatsächlich Grundlegendes zu verändern. Noch immer folgen Union und FDP allein den Interessen der Fleischindustrie und des Deutschen Bauernverbandes. Die Grünen verlangen in einem eigenen Gesetzentwurf, dass die Haltungsbedingungen in der Landwirtschaft sich an den Bedürfnissen der Tiere orientieren müssen. Wir brauchen kritische Prüfverfahren für Stallsysteme. Dauerhafte Anbindehaltung und die sogenannte Engaufstellung sind nicht länger verantwortbar. Qualzucht muss klar benannt und strikt verboten werden. Die Alternative ist eine artgerechte Tierhaltung, bei der auch das Futter größtenteils selbst hergestellt wird.

Die EU produziert Fleisch weit über den eigenen Bedarf, um wachsende Absatzmärkte in den Schwellenländern zu erobern. Seit 2005 ist die Ausfuhr von Fleisch und Wurst aus Deutschland um ganze 60 Prozent gestiegen. Neue Tierhaltungsanlagen beanspruchen immer gravierender die ländlichen Räume und beeinträchtigen Grund- und Trinkwasser. Doch eine Fleischindustrie, die nur durch dauerhafte Antibiotikagabe und Futtermittelimporte existieren kann, hat die Grenzen überschritten.

Warum wagen wir nicht mehr Ehrlichkeit? Statt der zynischen Idylle auf den Verpackungen im Supermarkt legen wir dem Schweinesteak doch einen Lebenslauf bei: „Nach Gensoja-Mast in drangvoller Enge und Transport quer durch Europa wurde ich geschlachtet. Ich gehöre zu den 12 Prozent Schweinen, die das bei vollem Bewusstsein erleben, weil die Betäubung nicht ordnungsgemäß war. Guten Appetit!“ Dieser immerwährende Skandal muss beendet werden. Mit einem echten Tierschutzgesetz und kritischen Konsumenten.


Renate Künast ist Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag.

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