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Gummierte Hummer

Von Hilal Sezgin


Zu den vielen Überraschungen, die meine neue Heimat Norddeutschland für mich bereit hielt, gehörte die Erfahrung, dass manche Klischees ganz einfach wahr sind. Am Beispiel Hamburg: Aus den roten Backsteinhäusern der Speicherstadt duftet es wirklich nach geröstetem Kaffee; in der Hafenstraße gibt es noch echte Punker; und Bürgerinnen mittleren Alters tragen Perlenkettchen zu blauen Blusen.

Seit Neuestem allerdings gibt es eine weitere Assoziation, und die heißt Hummer. Wenn man nämlich in ein besseres Hamburger Restaurant eingeladen wird, erwartet einen auf der dortigen Speisekarte fast zwangsläufig Hummer. Als ich zum ersten Mal eine solche Einladung erhielt, durchzuckte mich eine düstere Ahnung: Wird Hummer nicht lebend gekocht? In exakt dem Restaurant, in dem ich sitzen werde? Ich unterhalte mich mit Freunden, und keine zehn Meter weiter kratzt ein sterbender Hummer am Rand eines Topfes.

Denn genau das tun Hummer, wenn sie gekocht werden, berichtet der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace, von dem 2009 der Essay „Am Beispiel des Hummers“ erschien. Er schreibt auch: „Will man den Hummer aus der Verpackung direkt in den Topf schütten, kriegt man ihn häufig gar nicht erst heraus, so heftig klammert er sich daran fest. Auch versucht er mitunter, sich am Rand des Topfes aus der Gefahr zu ziehen – wie ein Mensch, der an einer Dachrinne hängt.“ Sorry aber s so was kann doch kein zivilisierter Mensch in seiner Nähe ertragen?!

Ich rufe den Koch eines Hamburger Gourmetrestaurants an. „Die sind sofort tot“, behauptet er. Die hierzulande verkauften Tiere seien meist aus Kanada importiert, daher würden ihnen für den Transport die Scheren mit Gummibändern zusammengebunden. Als solitär lebende Tiere mit ausgeprägtem Territorialverhalten würden sie einander sonst bekämpfen. „Gummiert“, heißt das, und wenn man es so darstellt, klingt es direkt human: Wer gummiert ist, kann sich und andere nicht verletzen. Im Internet stoße ich wiederholt auf den Text: „Werden lebende Krustentiere nach dem Einkauf nicht sofort getötet, dürfen sie nicht lebendig auf Eis gesetzt werden, das wäre sonst Tierquälerei… Ein Hummer oder eine Languste muss mit dem Kopf voraus in sprudelndes Wasser geworfen und mindestens 5 Minuten mit dem Kochlöffel unter Wasser gehalten werden.

Bei dieser Tötungsart hat das Tier nach neuesten Forschungen etwa fünf Minuten Todesqualen auszustehen. Distanzieren Sie sich von allen Rezepten, in denen empfohlen wird, lebende Krustentiere in nur siedendes Wasser zu legen, um sie zu töten. Man weiß, dass der Todeskampf dann wesentlich länger dauert. Wie passt das denn zusammen: Auf Eis legen ist Quälerei, sprudelnd Kochen geht in Ordnung?

Aber wie passt das überhaupt zusammen: Von Todesqualen sprechen und trotzdem das Resultat genießen? Ich rufe eine Gourmet-Redakteurin von Essen & Trinken an, die ein Rezept mit Hummern empfohlen hat. Sie kauft den Hummer schon getötet, überlässt das Tötern lieber Fachleuten, sagt sie. Wir sind und einig, dass die Sache irgendwie unappetitliche Seiten hat. Aber wir sind nicht umsonst Menschen, das heißt, nutzen die und angeborene Intelligenz, um und das schön zu reden: Fünf Minuten Todesqualen – na, was sind schon fünf Minuten?! Man denke an die Schweine, wie lange die zum Schlachter transportiert werden, in Todesangst. Und die hatten vorher schon ein schlimmes Leben! Während die Hummer bis dahin wenigstens glücklich waren.

Leider suche ich nach dem Telefonat weitere Informationen zusammen, und es stellt sich heraus: So glücklich waren die vorher gar nicht. Wurden (laut Aussage eines Hamburger Hummerhändlers) 36 bis 48 Stunden in einem Karton ohne Wasser, nur feucht, transportiert. Wurden vorher oft wochenlang in Hälterungsanlagen gehalten, um die Jahreszeitliche Schwankung im Angebot auszugleichen. Sitzen also schon ewig nicht mehr allein in ihren Meeresnischen, sondern mit gummierten Scheren inmitten eines Haufens Artgenossen…

Es reicht Ich rufe die Gastgeberin an, frage ob Speisen mit Hummer vorgesehen sind. „Um Himmels Willen, so etwas würde doch gar nicht zu uns passen!“ ruft sie. Man kann nur hoffen, dass es immer mehr Hamburger so sehen.


Ersterscheinung in FR und Berliner Zeitung 10/2011

Hilal Sezgin ist Kolumnistin der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau. Ihr jüngstes Buch „Landleben. Von einer die rauszog“ erschien im DuMont Buchverlag 2011.

Weitere Schriften:

www.berliner-zeitung.de/archif/der-darm-muss-rein-das-ei-muss-raus,10810590,1078488.html

www.berliner-zeitung.de/archiv/alles-fuer-ein-huehnerleben,10810590,10769018.html

www.berliner-zeitung.de/archiv/wer-frisst-will-leben-meine-tiere,10810590,10752200.html

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