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Es gibt kein jüdisches Volk

Israel darf kein jüdischer Staat mehr bleiben, meint Shlomo Sand

Von Arno Widmann


Shlomo Sand wurde 1946 in Linz geboren. Als Kind polnischer Juden, Überlebende des Holocaust, die 1949 nach Israel gingen. Er ist heute Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv. Er hat Bücher über Georges Sorel, über die Geschichte der Intellektuellen und über das 20. Jahrhundert im Kino geschrieben. Er sitzt jetzt im Ullstein-Haus in der Berliner Friedrichstraße und gibt im Einstundentakt Interviews. Er scheint gespannt auf die Fragen. Dabei wird es nicht eine neue geben. Denn „Die Erfindung des jüdischen Volkes – Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand“ (Propyläen-Verlag, 506 Seiten, 24,95 Euro) wird, seit es 2008 auf Hebräisch erschien, heftig diskutiert.


Shlomo Sand betont, alles was er schreibt, sei für Spezialisten längst nichts Neues mehr

Die französische und englische Ausgabe des Buches erschienen vergangenes Jahr. Heute kommt die deutsche in die Buchhandlungen. Shlomo Sand betont, er habe nichts Neues entdeckt. Alles, was er schreibt, sei für Spezialisten längst nichts Neues. Aber er habe es aus den Schubladen der Einzeldisziplinen herausgezogen und in den Zusammenhang gestellt, in den es gehört.

Er schildert, wie überrascht er war, in der Literatur nirgends auf einen Hinweis zu stoßen auf die Flucht und Vertreibung der Juden aus Palästina nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 unserer Zeitrechnung. Noch überraschter freilich war er, als die Fachleute überrascht über seine Überraschung waren. Es sei doch bekannt, dass es keine archäologischen Belege für den Exodus des jüdischen Volkes gab, erklärten sie ihm. Aber dass wir ins Exil gingen, ist doch eine der Grundtatsachen unserer Nationalgeschichte? Habe er erwidert. Er sei naiv gewesen. Erklärt er lachend. Er habe die ganze Geschichte geglaubt. Dabei war er kritisch gewesen, ein Linker, früher aktiv in der sozialistischen Organisation Matzpen gewesen und fest davon überzeugt, dass man ihm kein X für ein U vormachen könne.

Jetzt erklärt man ihm nicht nur, dass in der Fachwissenschaft kein Mensch mehr an die Vertreibung der Juden durch römische Truppen glaube, sondern dass man dort auch überwiegend die Auffassung vertrete, dass die Theologie des Exils eine christliche Erfindung sei. Es sei zunächst christliche Lehre gewesen, dass Gott die Juden bestraft habe – für den Gottesmord oder dafür, dass sie nicht Christen geworden seien oder für beides – und ihnen ihr Land nahm, das Land, das er ihnen verheißen und geschenkt hatte. Jüdische Gelehrte hätten daraus, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, jenes Konstrukt geschaffen, das zutr Theologie des Galut (Exilgemeinde) führte, in der das Exil nach Titus zu einer radikalisierten Wiederholung des babylonischen stilisiert wurde. Der Begriff Galut selbst habe noch im zweiten Jahrhundert Unterdrückung und nicht Exil bedeutet.

Shlomo Sand ist eine schmaler Mann mit kleinen, von vielen Lachfalten umsäumten Augen. Er amüsiert sich darüber, wie er – der kritische Intellektuelle – einem Mythos auf den Leim ging. Er hat ein dickes Buch geschrieben, um klarzumachen, dass das jüdische Volk selber ein Mythos ist.

Es gibt so wenig ein jüdisches Volk wie es ein deutsches, ein englisches oder ein französisches gibt. Sagt er. Sie haben nichts mit Hermann dem Cherusker zu tun, sagt er mir und guckt mich streng an, als wüsste er, dass mein zweiter Vorname Hermann ist. Die Franzosen sind nicht Nachfolger von Asterix und Obelix und die Engländer nicht die Wilhelm des Eroberers. Es gibt kein Volk, das über Jahrhunderte, gar Jahrtausende identisch wäre. Völker sind Konstruktionen. Sie entstehen nicht. Sie werden gemacht. Das jüdische Volk ist da keine Ausnahme.

Die Geschichte, dass wir alle von Abraham abstammen und die Levis alle vom dritten Lohn Jakobs und Leas abstammen, das ist alles Erfindung, Literatur. Es gibt kein jüdisches Volk. Es gibt eine jüdische Religion, die jahrhundertelang Proselyten gemacht hat.

Und was sagt die Genetik? Shlomo Sand glaubt ihren Befunden nicht. Sie versicht, die Rassenlehre mit neuer Begrifflichkeit fortzusetzen, lautet sein Befund. Saned verweist auf genetische Untersuchungen, die behaupten herausgefunden zu haben, dass etwa zwei Drittel der Palästinenser und etwa genauso viele Juden von drei gemeinsamen Vorvätern abstammten, die vor etwa 8000 Jahren gelebt hätten. Das wurde ein Jahr später korrigiert. Nun hatten Juden und Palästinenser in ihrem Genpool kaum noch etwas gemeinsam, dafür ähneln sich jetzt Juden und Kurden.

Genüsslich erzählt Shlomo Sand in seinem Buch von immer neuen einander widersprechenden Ergebnissen der Genforschung, die freilich immer belegen, dass alle Juden aus dem Nahen Osten kommen. Er betrachtet diesen Strang der Beweisführung für die Existenz eines jüdischen Volkes mit amüsierter, grenzenloser Skepsis.


Das Existenzrecht Israels können wir nicht aus der Geschichte ableiten“

Aber wenn es kein jüdisches Volk gibt, was ist dann Israel? Eine Vergewaltigung. Ihr habt uns dorthin getrieben. Die Nazis. Aber nicht nur die. Meine Eltern wollten nach dem Krieg nach Frankreich, in die USA. Keine Chance. Niemand wollte uns haben. Niemand. Darum ließen sie uns Israel. Und wir nahmen das Land und vertrieben seine Bewohner. Die, die bleiben, machten wir zu Bürgern zweiter Klasse. Israel muss das begreifen. Sonst wird es nicht überleben.

Israel darf kein jüdischer Staat bleiben. Es muss der Staat seiner Bürger werden. Es muss begreifen, dass es nicht die Burg ist, auf die sich in der Not alle in der ganzen Welt verstreuten Mitglieder eines imaginären jüdischen Volkes flüchten können. Es ist der Staat derer, die in ihm leben. Das Existenzrecht Israels können wir nicht aus der Geschichte ableiten. Kein Staat der Welt kann das das. Wir müssen es in Verhandlungen mit unseren Nachbarn gewinnen. Das ist unsere einzige Chance.


Feuilleton FR 14.4.10

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