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Armut gefährdet die Demokratie

Von Christoph Butterwegge


In einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft wie der Bundcesrepublik, die qua Verfassung den Anspruch erhebt, sozial gerecht organisiert und eine Demokratie zu sein, müssen Armut und Reichtum, sofern sie ein gewisses Maß übersteigen, öffentlich gerechtfertigt werden. Dies geschieht über das Dogma, wonach es den wirtschaftlichen Leistungsträgern besser geht und besser gehen soll als den weniger Leistungsfähigen oder gar den „Leistungsverweigerern“, „Faulenzern“ und „Sozialschmarotzern“.

Angesichts der Boni und Abfindungen in Millionenhöhe für Manager, die Firmenpleiten herbeigeführt haben, erkennen immer mehr Menschen, dass es sich hierbei um einen Mythos handelt. Leistungseliten reproduzieren sich auf gerade zu inzestuöse Weise aus ihrem eigenen Herkunftsmilieu und bilden eine „geschlossene Gesellschaft“, in die sonst niemand Zutritt hat. Gleichzeitig vertreten sie Eigeninteressen heute sehr viel rücksichtsloser als in der „alten“ Bundesrepublik, weil sich die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit seither zu ihren Gunsten geändert und durch den Aufstieg des Neoliberalismus ideologische Deutungsmuster an Bedeutung gewonnen haben, die ihre sozialen Privilegien legitimieren.

Damit die Demokratie eine Regierungsform ist, in der sich alle wiederfinden – sonst handelt es sich ja gar nicht um eine „Herrschaft des Volkes“ -, muss sie eine soziale Demokratie sein, die Armut energisch bekämpft. Tut sie das nicht, werden jene Gesellschaftsmitglieder am meisten enttäuscht, die ihre personelle Basis bilden müssten. Vor allem in einem Land, das nach wie vor unter dem geistig-politischen Einfluss des Neoliberalismus steht und daher stark auf Leistung und ökonomischen Erfolg setzt, bedeutet Armut nicht bloß, dass ein Mangel an prestigeträchtigen Konsumgütern besteht, sondern auch, dass hiermit ein Makel verbunden ist, der das Selbstwertgefühl davon Betroffener erschüttert.

Breitet sich die Armut aus, wird ein Großteil der Bevölkerung marginalisiert, die Menschenwürde massenhaft verletzt und den Betroffenen „strukturelle Gewalt“ (Johan Galtung) angetan. Arme und Reiche leben in einem Spannungsverhältnis, das sich zur sozialen Zeitbombe entwickeln kann, während Politik, Staat und Verwaltung nicht selten die Armen anstelle der Armut bekämpfen, statt für einen gerechten sozialen Ausgleich zu sorgen. Gleichzeitig gerät die Demokratie in Gefahr, denn sie verträgt sich nicht mit massenhafter Armut und extremem Reichtum. Wo die Armut grassiert, wird die Demokrarie automatisch paralysiert.

Je weniger Chancen die Armen haben, sich gleichberechtigt an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen, um so stärker empfinden sie die Informations-, Partizipations- und Emanzipationsdefizite eines Parlamentarismus, dem „Politiker- und Parteienverdrossenheit“ entgegenschlägt. Arme sind nicht nur sozial benachteiligt, vielmehr in aller Regel auch politisch weniger aktiv, skeptischer gegenüber der parlamentarischen Demokratie, die sie häufig für ihre prekäre Lage (mit)verantwortlich machen, und seltener bereit, wählen zu gehen. Hieraus kann eine Legitimationskrise der Demokratie erwachsen.

Die soziale Spaltung erhöht nicht bloß das Konflikt- und Gewaltpotenzial der Gesellschaft, vielmehr auch die Wahrscheinlichkeit einer Krise der politischen Repräsentation. Wenn die Lebensverhältnisse der Mitglieder einer demokratisch verfassten Gesellschaft, d.h. Armut und Reichtum immer stärker auseinander klaffen, kann sich eine latente Bürgerkriegsstimmung ausbreiten. Wer die brisante Mischung von berechtigter Empörung, ohnmächtiger Wut und blankem Hass auf fast alle Politiker/innen kennt, wie sie wohl nur in Versammlungen von Hartz-IV-Bezieher(innen)n existiert, sofern diese nicht schon resigniert und sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, kommt zu dem Schluss, dass längst zwei Welten oder „Parallelgesellschaften“ nebeneinander existieren. Auf der einen Seite mehren sich Luxusquartiere, in denen die Superreichen hinter den Mauern ihrer Villen unter sich bleiben und von privaten Sicherheitsdiensten beschützen lassen; auf der anderen Seite essen die „Abgehängten“ in Suppenküchen, die nobel „Tafeln“ genannt werden, versorgen sich mit Wäsche aus Kleiderkammern und beschaffen sich alles, was sie darüber hinaus zum Leben benötigen, in Sozialkaufhäusern.


Kein Geld für die Klassenfahrt

Armut ist eine Gefahr für die Demokratie, weil diese mehr beinhaltet, als dass Bürger/innen alle vier oder fünf Jahre zur Wahlurne gerufen werden, nämlich auch einschließt, dass sie gleichberechtigt an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen können. Hierzu müssen sie über die materiellen Mittel verfügen, um auch in ferner gelegenen Orten stattfindende politische und Bildungsveranstaltungen sowie Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen zu besuchen. Eine alleinerziehende Mutter, die nicht weiß, wie sie eine bevorstehende Klassenfahrt oder teure Schulmaterialien für ihre Kinder bezahlen soll, wird sich kaum an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen können.

Nicht bloß die um sich greifende Armut, sondern auch der sich bei wenigen Privatleuten anhäufende Reichtum gefährdet die Demokratie. Wegen der Finanzmarktkrise, die das Vertrauen in Bankiers, Broker und Börsianer erschüttert, wenn nicht für immer zerstört hat, dürften seine Akzeptanzprobleme zunehmen. Je stärker sich die sozialen Gegensätze ausprägen, umso leichter dürfte es Rechtsextremen und –populisten künftig fallen, den Unmut über die wachsende Ungerechtigkeit für sich nutzbar zu machen und in Stimmen umzusetzen.


Christoph Butterwegge ist Professor der Politologie. Er lehrt an der Universität Köln.

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