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Ethnizität als Religionsersatz

Von Rolf Verleger

In der Aprilausgabe 2007 der Blätter für deutsche und internationale Politik umriss Micha Brumlik seinen Standpunkt zum Palästinakonflikt: Die Gründung des Staates Israel habe die „Vertreibung von etwa 700 000 Arabern im Jahre 1948“ beinhaltet; die „Besatzungs- und Siedlungspolitik“ des jüdischen Staats sei „grundsätzlich völkerrechtswidrig“ und „im Einzelnen oft menschenrechtswidrig“; es sei klar, dass „an einer Zweistaatenlösung nichts vorbeiführt“.

Das sind klare Worte. Und es sind wahre Worte. Und mit solchen Worten macht man sich in jüdischen Kreisen Deutschlands nicht sonderlich beliebt. Brumlik selbst entging, als er den Libanon-Feldzug 1982 kritisierte, nur mit Mühe einem Ausschluss aus der Frankfurter Jüdischen Gemeinde.
Als ich 2006 in einem Brief an meine Kolleginnen und Kollegen im Direktorium des Zentralrats den jüngsten Libanon-Feldzug in Frage stellte, erhielt ich von den Angeschriebenen nur Reaktionen wie diese:

„sehr erstaunt… dass ausgerechnet Sie…viele abgedroschene antizionistische Argumente von vermeintlichen Israel-Freunden kritiklos übernehmen…Mit Ihrer einseitigen, polemischen Kritik… spielen Sie allen Feinden Israels direkt in die Hände“. Ihr Schreiben hat mich… verärgert…Sachliche Kritik ist …erlaubt. Ihre Anschuldigungen sind jedoch polemisch, hämisch und bar jeglicher Sensibilität.“

Als ich dann , enttäuscht von diesen Argumenten und ruhelos über den nicht endenden sinnlosen Krieg, meinen Brief öffentlich machte, traf sich am nächsten Tag empört der Gemeinderat meiner Jüdischen Gemeinde Lübeck, für deren Aufbau ich jahrelang viel Zeit und Energie aufgebracht hatte, und entzog mir das Mandat für den Vorstand des Landesverbands, so dass ich als Vorsitzender des Landesverbands abgesetzt war. Ein freundlicher alter Herr aus Düsseldorf empfahl mir telefonisch, ich solle mich erschiessen, andere Juden aus aller Welt schrieben mir E-Mails mit mehr oder weniger phantasievollen Beleidigungen, in der „Jüdischen Allgemeinen“ wurde ich beschimpft, und als die „Jüdische Zeitung“ über unsere Aktion „Berliner Erklärung Schalom 5767“ (in: „Blätter“ 2/2007, S. 250-252) berichtete, empörte sich darüber perseverativ in zwei Nummern hintereinander das Honoratioren-„Kuratorium“ dieser Zeitung. Offensichtlich braucht man also etwas Standfestigkeit, wenn man in der jüdischen Gemeinde Deutschlands die Politik Israels kritisiert. Mit dem Strom schwimmen ist einfacher.

Es ist daher folgerichtig, dass sich Brumliks Dissens mit unserer „Berliner Erklärung Schalom 5767“ an der Forderung entzündet, den Boykott der palästinensischen Autonomiebehörde zu beenden. Denn auch diese Forderung ist nicht originell, sie ist aber der einzige Punkt, der kurzfristig ohne weiteres umgesetzt werden könnte und daher zeigen würde, dass man es hier und heute ernst meint. Für Brumlik bedeutet das aber, „mit einer erklärtermaßen antisemitischen Partei teilweise gemeinsame Sache zu machen.“
Eine sinnvolle Antwort auf diesen Anwurf gibt Michal Bodemann in seinem nebenstehenden Beitrag. Ich möchte nur hinzufügen, dass am selben Tag, an dem ich Micha Brumliks Erstaunen darüber las, dass man fordern kann, mit unseren Feinden zu reden, mir auf der Titelseite der Tageszeitungen zwei Leute entgegensahen, die sich jahrzehntelang gehasst haben, mit Bomben und mit Worten: Gerry Adams von Sinn Fein und Ian Paisley von den Unionisten haben verhandelt und werden eine gemeinsame Regierung in Nordirland bilden.

Zu Recht sieht Brumlik als entscheidende Frage hinter den Auseinandersetzungen um Israels Politik innerhalb der jüdischen Gemeinschaft die Frage, was jüdische Identität heute ist und sein kann.

Von alters her definieren sich Juden über ihre Religion.: Die 613 Aufträge Gottes an sein Volk sind einzuhalten. So sahen das die Weisen des Talmud, so sahen das unsere Weisen im Mittelalter, so sah das die große Mehrheit der Rabbiner um 1920 (auch beispielsweise unser Lübecker Gründungsrabbiner Dr. Salomon Carlebach), als sie sich in der „Aguda“ gegen die Zionisten zusammenschlossen. Die Zionisten sagten: Früher sei die jüdische Religion notwendig gewesen, um für den sozialen Zusammenhalt des jüdischen Volks zu sorgen; wenn nun die Rolle der Religion abnehme, benötige das jüdische Volk etwas anderes, um weiterhin als Volk zu existieren: die Idee der Nation. Die „Aguda“ wandte sich scharf gegen solche Ansichten, denn die Idee eines jüdischen Volks außerhalb der jüdischen Religion war für das traditionelle Judentum ein Widerspruch in sich.
Vgl. Michael Selzer ( Hg.), Zionism Reconsidered: The Rejection of Jewish Normalcy, New York 1970

Wie die Zionisten richtig bemerkten, ist die Definition der Identität über die Religion brüchig geworden. Zum Beispiel wird die Tora-Rolle, die mein Vater 1958 der Stuttgarter Gemeinde übergab, nicht in meine Lübecker Gemeinde überbracht werden, denn mein orthodox-religiöser Bruder macht zur Bedingung für diesen Transfer, dass in Lübeck regelmäßig zehn Männer in die Synagoge kämen, die „Shomrej Schabbat“ sind, also wenigstens das Gebot der Schabbat-Ruhe einhalten.

Die Jüdische Gemeinde Lübeck hat über 700 Mitglieder. Aber solche zehn Männer gibt es in Lübeck nicht. Die große Mehrheit der Juden hält sich nicht mehr an die meisten Gebote der jüdischen Religion – in Lübeck nicht und anderswo auch nicht. Das heißt, die meisten Juden definieren sich heute nicht mehr darüber, dass sie an die 613 Aufträge gebunden sind. Ich auch nicht.

In diesem Sinne beschrieb Micha Brumlik in seiner verstörend ehrlichen Autobiographie die Irrungen und Wirrungen, mit denen er von Kindheit an danach suchen musste, was es heißt, jüdisch zu sein.
Mich Brumlik, Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung, Berlin 2000.

Nun scheint Brumlik aber seine Heimat gefunden zu haben, zumindest für den jetzigen Lebensabschnitt: In seinem Artikel in dieser Zeitschrift definiert er das heutige Judentum als „ethnisch-religiösen Konnex“, der aus zwei Sorten von Menschen besteht: „starke …Identifikationen bei all jenen, die in und mit jüdischen Institutionen leben“ und „abgeschwächte Zugehörigkeitsempfindungen derer, die…jenseits der institutionellen Kerne“ leben. Entscheidend sei also das Verhältnis zu den jüdischen „Institutionen“, und bei diesen findet Brumlik nun seine jüdische Heimat.

Mein Leben verlief anders. Ich hatte meine jüdische Heimat in unserer Familie, denn in unserer schwäbischen Kleinstadt gab es außer unserer Familie praktisch keine Juden, und jedenfalls keine „Institutionen“. Mein Vater trug sein chassidisches Judentum in sich, und er wollte nichts auf der Welt lieber als nochmals Kinder, nachdem seine erste Familie ausgerottet worden war. Dieser Wunsch wurde ihm durch meine Mutter erfüllt. Er lehrte uns das „mojde ani“ beten, ich konnte mit sechs Jahren im hebräischen Gebetbuch lesen, wir sagten täglich die vorgeschriebenen Gebete, feierten Schabbat, natürlich Pessach, bauten Ssuka auf der Terrasse, mein Bruder und ich lernten die Parschat haSchawua, wir hatten wöchentlichen Religionsunterricht von einem Wanderlehrer der Gemeinde Stuttgart, lernten Tenach, Mischna und auch ein bisschen Gemara, nach Stuttgart in die Synagoge fuhren wir nur zu den hohen Feiertagen, und ich hatte als Jugendlicher viele Konflikte zwischen dem Wunsch, mich meinen Mitschülern anzupassen, und dem Wunsch, Gottes Aufträge für das tägliche Leben zu erfüllen (bezüglich Beten, Essen, Kleidung, Schabbatruhe) Mein Vater starb zwei Monate nach meiner Bar-Mizwah.

So ist ach heute noch das Judentum mein ideelles Heimatdorf, das mir Sicherheit gibt darüber, wo ich herkomme, und das mir wie jedes Heimatdorf manchmal eng wird, so dass ich heraus muss, aber in das ich immer wieder gerne zurückkomme. Genau wie bei meinem Vater, der selbst nicht koscher aß, aber uns Kindern gerne das teure koschere Fleisch bezahlte. Für diese Heimat im Judentum sind die Institutionen entscheidend. Entscheidend ist das Tun und das Wissen über die jüdische Tradition.

Der zentrale Auftrag, den ich als Kind über das Judentum erteilt bekam, lautet :
„Du sollst sein a stolzer Jid.“ Und das Judentum hat in der Tat geistige Traditionen, auf die ein heutiger Mensch stolz sein kann. Das sind die Traditionen , die Brumlik als „universalistisch“ abtut, als peripher für die jüdisch-„ethnische“ (= völkische) Tradition. Andersherum wird ein Schuh daraus: Unser französisch-deutscher Raschi
(Rabbi Schlomo Jizchaki, 1040-1105, aus Troyes, der lange in Worms und Mainz lebte), der bedeutendste, meistgedruckte und einflussreichste Bibel- und Talmudkommentator, kommentierte den Vers „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ so: „Dies ist ein großer Grundsatz in der Tora“ („se ch´lal godal ba Tora“). Wozu die „Sprachen der Weisen“ erklärend anmerken: „“Damit will er (Raschi) sagen: In diesem Auftrag ist die ganze Tora enthalten („ni-ch´lal kol ha Tora“), - so wie der alte Hillel sagte.“

Wenn man diese zentralen Aussagen als „eigenen Entwurf jüdischer Identität“ abtut, weil un-„ethnisch“ (= unvölkisch) und „universalistisch“, dann verurteilt man jüdische Religion und Moral zur Bedeutungslosigkeit und zum Untergang.
Vgl. das Buch des großartigen Hajo Meyer, Das Ende des Judentums, Neu Isenburg 2005.

Die Abschaffung der Religion mag ihre Rechtfertigung finden in unserem Zeitalter der Aufklärung. Jedoch blau-weiße Fähnchen schwenken, die „Ethnie“ feiern und das Verhältnis zum Judentum verwaltungstechnisch über die Nähe zu „Institutionen“ definieren: Das ist ein zu billiger Ersatz für die brüchig gewordene jüdische Identität. Das Loben von Institutionen mag eine gute preußische Tradition sein, ersetzt aber keine Inhalte. Nationalismus jedenfalls hat schon andere Völker in den Abgrund geführt. Auf diesem Weg zum Abgrund ist Israel schon kräftig vorangeschritten und nimmt die wegen ihrer Identitätsprobleme in kritikloser Solidarität verharrrende jüdische Gemeinschaft mit.

Der sinnvolle Weg, die jüdische Religion vor der völligen Bedeutungslosigkeit – oder schlimmer: vor dem endgültigen Übergang in eine platte, volkstümelnde, nationalistische Herrschaftsideologie – zu bewahren, ist der, den Brumlik irrtümlicherweise als peripher betrachtet. Es ist der Weg, den der Herausgeber des jiddischen Gebetsbuchs zu Rosch haSchana darlegt ( das mach 1945 in allen Synagogen verbreitet war): Er schreibt in der Einleitung zum Gebet am Eröffnungsabend, dass es nicht ausreiche, in der Synagoge (=den Institutionen) ein guter Jude zu sein. Vielmehr müsse das Judentum durch seine Taten nach außen ausstrahlen, damit alle Völker erkennen, „darkheha darkhei noam wechol netiwoteha schalom“ : „ihre – der Tora – Wege sind Wege der Güte, und all ihre Pfade sind Frieden“. Dafür stehen Schalom 5767, dieEuropean Jews for a Just Peace, die Genfer Initiative , Alfred Grosser und viele andere.


Rolf Verleger ist Professor für Neurophysiologie an der Universität Lübeck, Initiator der „Berliner Erlärung Schalom 5767“.

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