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Fabelhafte Situation

 

Was geschah nach der Demontage des Systems von Bretton Woods Anfang der siebziger Jahre?  Das goldene Zeitalter des Staatskapitalismus der Nachkriegszeit   ging damit zu Ende. Wenn wir uns nur die reichen Länder ansehen, stellt sich heraus, daß das Wachstum der Wirtschaft und der Produktivität vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien sehr stark nachgelassen hat. Nicht zuletzt aufgrund der internationalen Wirtschaftsintegration findet man auch in allen anderen Ländern mehr oder weniger dieselbe Tendenz. Genau betrachtet und im Gegensatz zu dem, was vielfach behauptet wird ist auch der Handel zurückgegangen, vor allem in den Vereinigten Staaten und England.

 

Die große Mehrheit der Bevölkerung muß ein stagnierendes oder sinkendes Einkommen hinnehmen, die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich, die Sozialleistungen wurden drastisch gekürzt, und die gesunkenen öffentlichen Ausgaben bringen die Gefahr einer ernsten Zerrüttung der Infrastruktur. Der Sozialstaat ist stark unterminiert worden.

 

Eng damit in Verbindung steht das rasche Wachstum der Gefängnisbevölkerung. Die enge Beziehung zwischen beiden Erscheinungen ergibt sich aus der Tatsache, daß ein großer Teil der Bevölkerung inzwischen für die Reichtumsbildung ganz einfach überflüssig ist.  In unzivilisierten Ländern schickt man dann die Todesschwadronen los, um sie zu töten; in einer zivilisierten Gesellschaft  wie der unseren wirft man sie ins Gefängnis. 1980, als das neue System begann, wirklich Gestalt anzunehmen, gab es in den USA im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ungefähr ebenso viele Häftlinge wie in den anderen Industrieländern; der US-Anteil gehörte zwar zu den höchsten, fiel aber nicht aus dem Rahmen. Davon abgesehen ist die Verbrechensrate in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zu dem, was man im allgemeinen liest, nicht außergewöhnlich hoch. Sie liegt am oberen Ende des Spektrums, mehr nicht, mit Ausnahme von Mord unter Verwendung von Schusswaffen.

 

Aber das hat  mit US-spezifischen Waffengesetzen, kulturellen Mustern und ähnlichen Faktoren zu tun und kann nicht auf die restliche Kriminalität übertragen werden. All das hat sich bis heute nicht  geändert. Tatsächlich ist die Kriminalität seit 1980 zurückgegangen, aber die Zahl der Häftlinge ist sprunghaft gestiegen. Meiner Ansicht nach spiegeln sich darin direkt die wachsende Ungleichheit und der wachsende Bedarf an sozialer Kontrolle wider.

 

Der Anteil der Gesamtbevölkerung hat sich in den achtziger Jahren verdreifacht, ist in den neunziger Jahren weiter sehr rasch gewachsen und liegt jetzt fünf bis zehn mal so hoch wie in den anderen Industrieländern. Tatsächlich halten die USA, was die Einkerkerung der eigenen Bevölkerung betrifft, zumindest unter den Ländern mit minimal verlässlichen Statistiken den Weltrekord.

 

Bei Hinzuzählung der Gefängnisbevölkerung kommt man übrigens auf eine um zwei Prozent höhere Arbeitslosenrate, womit die USA verglichen mit den Ländern Europas im Mittelfeld liegen. Aber auch wenn wir sie nicht mitzählen, ist die Arbeitslosenrate der USA keineswegs die niedrigste. Man kann allerdings auch noch die Gefängnisarbeit in solche Berechnungen mit einbeziehen. Sie spielt eine keineswegs unwichtige Rolle und ist angesichts der Gefängnisarbeit für Firmen wie Boeing Aircraft, AT & T und andere sehr lohnend. Wie dem auch sei, parallel zur Entwicklung einer „unbrauchbaren“ Überschussbevölkerung kam es zu einem rapiden Anschwellen der Zahl der in Gefängnissen Inhaftierten, und hier besteht meines Erachtens ein direkter Zusammenhang.

 

Während derselben Zeit, besonders in den neunziger Jahren, sind die Profite in die Höhe geschossen. Die gegenwärtige Nervosität an der Wall Street geht auf die Sorge zurück, daß mit einem jahrelangen steilen Wachstum der Profite, das von der Geschäftspresse als enorm, verblüffend und  außergewöhnlich bezeichnet wurde, vorbei sein könnte. Man fand dort schon fast keine Worte mehr für die Gewinnentwicklung und fürchtete jetzt vermutlich, daß es auch mit den märchenhaften Gewinnen selbst zu Ende geht.

Die Kapitalströme sind gigantisch gewachsen, und meistens handelt es sich dabei um kurzfristige Kapitalbewegungen. Schätzungen zufolge bewegen sich 80 % dieses Kapitals im Kreis; es fließt ab und kommt innerhalb einer Woche und weniger, oft innerhalb von Stunden und sogar Minuten wieder zurück.

 

Das bedeutet, daß diese Kapitalbewegungen praktisch nichts mit der Realwirtschaft, mit Handel und Investitionen zu tun haben. Im Augenblick schätzt man, daß nur etwa fünf Prozent der etwa anderthalb Billionen Dollar täglicher Kapitalbewegungen einen Bezug zur Realwirtschaft haben. Der Rest ist Spekulationskapital.

 

Noch 1970 war das Verhältnis beinahe umgekehrt: Damals standen etwa 90 Prozent einer weitaus kleineren Summe in Beziehung zur Realökonomie, während etwa 10 Prozent spekulativ waren. Die so getätigten „Investitionen“ basieren außerdem sehr stark auf Krediten, auf geborgtem Kapital, und das ist im Gegensatz zu vielen anderen Entwicklungen neu.

 

Die  Irrationalität der Finanzmärkte wird dadurch verschärft. Sie sind viel instabiler und unvorhersehbarer geworden; spekulative Kapitalbewegungen bewirken oft Fluktuationen in den Wechselkursen, und es kommt zu immer heftigeren Finanzkrisen. Der IWF gab kürzlich eine Studie über die fünfzehn Jahre von 1980 – 1995 in Auftrag, die zeigte, daß um die 80 Prozent der etwa 180 Mitglieder des IWF in diesem Zeitraum eine oder mehrere zum Teil schwerwiegende Bankkrisen durchmachten. Auch das würde Keynes, White und die anderen Urheber des Systems von Bretton Woods oder die Ökonomen , deren Denken diesem System zugrunde lag, kaum überraschen.

 

Dieselbe Zeitspanne sah, auch das ist wenig überraschend, einen „heftigen, kontinuierlichen Angriff auf den freien Markt“,  wie der Leiter der  Wirtschaftsforschungsanstalt der WTO Patrick Low  zu diesem Thema schrieb.

An der Spitze dieses Angriffs standen  die Reaganleute. Den Armen predigten sie den freien Markt, aber für die Reichen hatten sie ganz andere Dinge in petto. Low schätzt, daß die protektionistischen Maßnahmen der Reaganleute eine etwa dreimal so starke Wirkung hatte wie die ebenfalls nicht unerheblichen Protektionsmaßnahmenanderer Industrieländer.

 

Damit trat genau das ein, was zu erwarten war. Während der Reaganjahre gab es eine menge Freihandelsrhetorik, während die Schutzzölle annähernd verdoppelt wurden.  Die staatlichen Subventionen, die ebenfalls eine Verletzung des Freihandelsprinzips darstellen, wurden ebenso ausgebaut wie die Rettungsaktionen des Staats für die vor der Pleite stehenden  einheimischen und internationalen Banken.

Diese Subventionen sollten die Folgen äußerst ernster Managementfehler der Konzerne ausgleichen, die zum Niedergang der US-Industrie beitrugen und damals erhebliche Besorgnis auslösten.

 

In den USA war diese Politik besonders ausgeprägt. Obwohl staatliche Subventionen  weltweit eine ähnliche Rolle spielten.

In der Geschäftspresse  gab es damals viele besorgte Diskussionen über die Notwendigkeit, Amerika zu reindustrialisieren. Die amerikanische Industrie stand, größtenteils wegen schlechten Managements, vor dem Zusammenbruch. Das Pentagon wurde ins Spiel gebracht, um seine traditionelle Rolle bei der Lösung solcher Probleme zu übernehmen. (Die Rolle der staatlich subventionierten Verteidigungsindustrie  reicht tatsächlich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück, eine Zeit also, als es noch gar kein Pentagon gab.)

 

Unter Carter wurde das Pentagon mit der Entwicklung eines Programms beauftragt, das unter Reagan stark ausgebaut wurde und die sogenannte „Fabrik der Zukunft“ entwickeln sollte. Dabei ging es um „schlanke Produktion“, Automation und andere Entwicklungen, in denen das amerikanische Management ziemlich zurückgefallen war; die Entwicklungsergebnisse sollten dann der Industrie zum Geschenk gemacht werden. Ziel war, zentrale Sektoren des industriellen Systems vor der hauptsächlich - japanischen Konkurrenz zu retten, die gerade dabei war, der amerikanischen Industrie den Garaus zu machen.  Die amerikanische Industrie sollte in die Lage versetzt werden, im Bereich der Technologien und Märkte der kommenden Ära die beherrschende Position einzunehmen.  Die Internet- und Informationstechnologie, aber bei weitem nicht nur sie, sind dafür dramatische Beispiele.

 

Unter Clinton setzt sich all das fort, wie immer begleitet von der Rhetorik des freien Marktes. Radikale Eingriffe in den Freihandel sind eine Standardmaßnahme, wenn damit eigenen Interessen gedient ist. Und das gilt für alle Bereiche. So wurden 1996 mexikanische Tomaten per Abkommen vom US-Markt ausgeschlossen. Als Grund wurde ganz offen angegeben, die US-Konsumenten zögen sie den amerikanischen vor, was die Position der Tomatenbetriebe in Florida schwäche.

 

Und dasselbe wie im primären Sektor finden wir im Bereich der Hochtechnologie: Erst vor einigen Monaten wurden hohe Zölle auf japanische Supercomputer eingeführt, um die Marktposition von US-Herstellern wie Crazy Enterprises zu schützen. Da die Profite privat sind, wird vermutlich auch das privates Unternehmertum genannt.

Dabei werden die Märke ebenso wie ein Großteil der technologischen Forschung und der Fördermittel von der Öffentlichkeit  gestellt, während die Profite in private Taschen fließen.

 

Wenn man sich die wirkliche Bedeutung des „Freihandels“ und des Neoliberalismus in seiner grausamsten Form sehen will, schaue man sich einmal die Beziehungen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Land der Hemisphäre an, nämlich zwischen den vereinigten Staaten und Haiti.

Haiti wurde eine radikale Liberalisierung abgepresst, bevor sich die USA bereit fanden, dem Terror und der Folter des Putschregimes ein Ende zu bereiten.

Ich war damals selbst in Haiti und weiß aus erster Hand, wie furchtbar die Verhältnisse waren, aber man muß  nicht dort gewesen sein, um Bescheid zu wissen. Die Liberalisierung fordert einen hohen Preis. Einer der wenigen potentiellen wirtschaftlichen Pluspunkte Haitis, nämlich die Reisproduktion, ist marginalisiert und fast vernichtet worden, weil sie jetzt der Konkurrenz der großen US-Landwirtschaftsbetriebe ausgesetzt ist.

Das ist schon für sich genommen Irrsinn, aber richtig kriminell wird es erst, wenn man bedenkt, daß dank der historischen Beiträge Reagans zum „Freihandel“ 40 % der Profite des US-Agrobusiness aus staatlichen Subventionenstammen.

 

Kürzlich haben die Vereinigten Staaten mit dem Export von Hähnchenteilen nach Haiti begonnen, womit sie dort einen weiteren Wirtschaftszweig niederkonkurrieren. Die amerikanischen Konsumenten mögen kein dunkles Fleisch mehr, während die großen fabrikmäßig beriebenen Farmen eine Menge davon übrig haben warum sollte man es da nicht in Haiti loswerden?  Und so müssen wir eben einen der wenigen hoffnungsvollen Wirtschaftszweige dort auslöschen. In Kanada kann man diese Ware nicht loswerden, weil Kanada sich mit hohen Zöllen gegen solche Importe wehrt. Die Zölle Haitis betragen ebenso wie die der Dominikanischen Republik und Jamaikas nur ein Fünfzigstel der kanadischen Zölle aber Haiti muß sich unbedingt weiter liberalisieren lassen.

 

Erst vor einpaar Tagen haben die amerikanischen Stahlproduzenten von der US-Regierung verlangt, Japan und Russland zur Senkung ihrer Importe in die Vereinigten Staaten zu zwingen. Besondere Sorgen macht ihnen die hohe Qualität des japanischen Stahls, die ihre Marktposition bedroht. Und die Importquoten werden wahrscheinlich gesenkt werden.

Die USA haben die Mittel und Wege, das zu erreichen. Sie können jedem Land damit drohen, ihm den Markt zu sperren, und wenn sich das Land dann nicht unterwirft, macht man eben Ernst.

Und da wir in einer Welt der Freien und Gleichen leben, steht Haiti dieselbe Möglichkeit zur Verfügung: es kann sich gegen die US-amerikanischen Importe von Geflügelteilen wehren, indem es  mit der Sperrung seiner Märkte für Importe aus den USA droht, und genießt somit dieselben Rechte wie die USA. Damit sind Freiheit und Gleichheit für alle verwirklicht. So viel zum Freihandel.

 

Auf grund des skizzierten Kräfteverhältnisses ist die Ära nach Bretton Woods, die vor 25 Jahren begann, für die Dritte Welt eine Katastrophe gewesen. Einige wenige Länder sind dem Desaster entgangen, indem sie sich, genau wie die reichen Länder es von Anfang an getan haben, weigerten, sich an die Regeln zu halten.  Seit Rußland  vor etwa  zehn Jahren zu seiner traditionellen Rolle als Europas Dritte Welt zurückgekehrt ist, kann es als dramatisches Beispiel für diesen Kontrast gelten. Was die Vereinigten Staaten betrifft, gibt es eine weithin verbreitete Standardversion. In dieser Version ist der Zustand der amerikanischen Wirtschaft „ganz fabelhaft“, die Amerikaner sonnen sich „im goldenen Glanz des amerikanischen Aufschwungs“, ein „wohlgenährtes und glückliches Amerika“ erlebt „einen der stabilsten Booms der amerikanischen Geschichte“ all das Schlagzeilen der Titelseite der New York Times,  Schlagzeilen, die für die Stimmung nicht untypisch sind.

 

Zum Beweis brachten die zugehörigen Artikel alle, zumindest im letzten Sommer, ein und dieselbe Illustration, nämlich die Situation am Aktienmarkt, und das ist in der Tat eine märchenhafte Geschichte, besonders für das oberste Prozent der Haushalte, die etwa die Hälfte der Aktien und sonstigen Wertpapiere besitzen, und in gewissem Maß auch für die 10 Prozent, denen der größte Teil des Rests gehört.

 

Was ist mit den nächsten  10 Prozent direkt unterhalb des obersten Zehntels? Ihr Nettobesitz ist während der neunziger Jahre gesunken, da sie enorm verschuldet sind und ihre Schulden schneller gewachsen sind als ihr Besitz an Aktien und sonstigen Wertpapieren. Und je weiter man auf der Leiter nach unten geht, desto ärger wird es. Bei achtzig Prozent der Familien müssen die Ernährer erheblich länger arbeiten, damit das Familieneinkommen nicht noch weiter sinkt. Es ist noch nicht einmal bis auf das Niveau von 1989 (als sich die Wirtschaft in einem vergleichbaren Stadium des Konjunkturzyklus befand) zurückgeklettert und erst recht nicht das von 1973, als das neue ökonomische System wirklich Fuß zu fassen begann.

 

All das ist in der amerikanischen Geschichte beispiellos. Das hat es noch nie gegeben. Zum ersten Mal während einer wirtschaftlichen Erholung kam das Einkommen einer großen Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal an das Niveau vor Eintritt der Krise heran. Das Wirtschaftswachstum während dieses „fabelhaften Booms“ liegt ungefähr im Durchschnitt der Länder der OECD beide haben die anämischen Dimensionen der siebziger und achtziger Jahre und sind weit von denen des Goldenen Zeitalters entfernt.

Es gibt einige, für die der Boom fabelhaft ist, und sie sind es, deren Stimme wir in den Medien hören . Sie sind die Amerikaner, die sich im goldenen Glanz des Aufschwungs sonnen was mit den anderen ist, ist ganz einfach uninteressant.

 

Die Ursachen für die fabelhafte Situation werden offen dargelegt, so zum Beispiel vom Vorsitzenden der Federal Reserve Bank Alan Greenspan. Er schreibt den Boom einem Phänomen zu, das er als „bedeutende Lohnzurückhaltung“  und „stärkere Gefährdung des Arbeitsplatzes“ bezeichnet. Die Clinton-Administration führt das Wirtschaftswachstum in ihrem Wirtschaftsbericht auf heilsame Veränderungen in den Institutionen des Arbeitsmarktes zurück und sagt damit auf vornehmere Art dasselbe.

 

Die Unternehmer stimmen dem voll und ganz zu. In der Geschäftspresse heißt es, die Arbeiter seien zu eingeschüchtert, um ihren Anteil am Kuchen zu fordern.  Erst diese Woche berichtete  Business Week  über Untersuchungen, nach denen 60 Prozent der Arbeitnehmer sehr, 30 Prozent etwas  um die Jobsicherheit für Arbeitnehmer besorgt sind. Wenn 90 Prozent der Beschäftigten Angst um ihren Job haben, ist es dementsprechend leichter, die Profite so hoch und die Inflationsrate so niedrig zu halten, daß die Finanzinstitutionen zufrieden sein können, und das ist schließlich die Definition einer fabelhaften Wirtschaftslage.

 

Daß all das funktioniert, hat eine Reihe von Gründen. Einer davon ist die Drohung mit Arbeitsplatzverlagerung, wann immer die Arbeiter es wagen, aufzumucken, ein weiterer zerstörerischer Angriff auf die Gewerkschaften, der unter der Reagan-Administration mit ihrer Politik der Legalisierung krimineller Unternehmenspraktiken rasch eskalierte. Auch darüber wird in der Geschäftspresse klar und deutlich gesprochen.

 

Es handelt sich hier um eine spezifische Sozial- und Wirtschaftspolitik, die das Ziel verfolgt, die bestehenden Verhältnisse zu zementieren. Hierzu gehören auch die neuen Abkommen über Investorenrechte, an denen schon seit langer Zeit gearbeitet wird. Kanada ist bisher das einzige Land gewesen, in dem es erhebliche öffentliche Opposition gegen dieses Abkommen gegeben hat. Daher wissen die hier Anwesenden vermutlich, daß die Länder der OECD, das heißt, die reichen Länder, noch dieses Jahr versuchen werden, eine Art Superabkommen für Investorenrechte das Multilaterale Abkommen über Investitionen MAI durchzupeitschen. Das soll jetzt im Oktober geschehen, wenn möglich unter Ausschluß der Öffentlichkeit; die geheimen Arbeiten an dem Abkommen sind schon seit langem in Gang.

 

Im April 1998 ist der Abschluß des Abkommens erst einmal geplatzt, was in Wirtschaftskreisen regelrechte Panik auslöste es ist interessant sich die Kommentare näher anzusehen.

Die in London erscheinende weltweit führende Tageszeitung für Wirtschaftsfragen

Financial Times brachte einen ratlosen Artikel, nachdem die OECD-Länder es nicht geschafft haben, sich eine „Horde militanter Bürger“ vom Hals zu schaffen und die wehrlos den massiven Angriffen von Anti-MAI-Aktivistinnen wie Maude Barlow ausgelieferten großen Konzerne den ungeordneten Rückzug antreten mussten.

 

Man muß die Artikel lesen, um sich ein Bild von der Panik zu machen. In dem FT-Artikel wurden außerdem Handelsdiplomaten mit der Warnung zitiert, falls es nicht gelänge, diese Krise der Demokratie  zu überwinden, könne es in Zukunft „schwieriger werden“, wie in guten alten Zeiten „hinter verschlossenen Türen Abkommen zu unterzeichnen und sie dann den Parlamenten zur formalen Beglaubigung vorzulegen“.

Daraus ist klar ersichtlich, worum es bei dem Ganzen geht. Wieder einmal geht es, heutzutage eben für die Großkonzerne, um die Gefahr einer wachsenden politischen Macht der Massen, vor der die Reichen und Mächtigen sich schon seit der ersten großen demokratischen Bewegung der Neuzeit im England des 17. Jahrhunderts fürchten.

 

Ich möchte zum Schluß noch die Frage aufwerfen, ob wirklich niemand mehr die globalisierte Wirtschaft unter Kontrolle hat? Meiner Ansicht nach sollte man den Behauptungen, die in diese Richtung gehen, keinen Glauben schenken. Ein sehr großer Anteil des internationalen Handels findet innerhalb der sogenannten Triade statt, das heißt, zwischen Nordamerika, Europa und Japan. Das sind alles Länder mit stabilen parlamentarischen Institutionen, in denen man keine Militärputsche fürchten muß. Was dort geschieht, unterliegt zumindest im Prinzip den Beschlüssen der Bevölkerung, und diesem Prinzip kann man praktische Geltung verschaffen. Und zwar im Rahmen der bestehenden Institutionen, ausgehend von der Annnahme, daß keine anderen Institutionen an ihre Stelle treten und das ist durchaus keine notwendige Annahme. Sie war schon immer falsch, und auch heute gibt es keinen Grund, weshalb es auf wundersame Weise auf einmal anders sein sollte.

 

Institutionen gleich welcher Art tragen ihre Rechtfertigung nicht in sich selbst; sie müssen sich legitimieren. Die heutige Welt wird weitgehend von privaten Tyranneien beherrscht, die der Bevölkerung keine Rechenschaft schuldig sind, und diese Tyranneien müssen ihre Existenz erst einmal rechtfertigen. Sie sind nicht einfach dadurch gerechtfertigt, daß es sie gibt.

Als sie in den Vereinigten Staaten Anfang des Jahrhunderts durch einschneidende Veränderungen im Rechtssystem geschaffen wurden, wurde diese Entwicklung von den Konservativen (die  es damals anders als heute nicht nur dem Namen nach gab) heftig verurteilt. Sie betrachteten sie als einen großangelegten Angriff auf klassische liberale Ideen und unverzichtbare Auffassungen über die Menschenrechte. Sie verurteilten sie sogar als Variante de Kommunismus und als Rückfall in den Feudalismus, und diese Kritik war nicht einmal völlig unberechtigt

 

Wie dem auch sei, diese Institutionen müssen erst einmal den Nachweis erbringen, daß sie legitim sind. Sie haben eine tyrannische Struktur, sind der Öffentlichkeit nicht rechenschaftspflichtig, kontrollieren die Märkte durch innerbetrieblichen „Handel“ und strategische Bündnisse mit angeblichen Konkurrenten und haben mächtige Staaten im Rücken, die für Subventionen, Risikoschutz und Rettungsmaßnahmen im Fall drohender Konkurse sorgen.

Wir müssen uns die Frage stellen, ob Institutionen dieser Art notwendig und angemessen sind, und das ist eine Frage von enormer Bedeutung.

 

Es ist nur logisch, daß die für die Indoktrinierung zuständigen Institutionen versuchen, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von wichtigen Themen weg und auf andere Dinge zu lenken, eine allgemeine Stimmung der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu erzeugen das, was Linda McQuaig in einem kürzlich erschienenen Buch, in dem sie beschreibt, wie das in Kanada funktioniert, den Kult der Ohnmacht nennt und die Menschen auf individuelle Überlebensstrategien zu orientieren. Es wäre erstaunlich, wenn sie das nicht täten. Es ist von ihrem Standpunkt aus sehr sinnvoll.

 

Aber es ist auch möglich, diese Strategie zu durchschauen, und ein solches Verständnis kann sehr befreiend sein, indem es den Menschen die Möglichkeit verschafft, andere Wege zu finden und einzuschlagen. Dazu könnte und sollte meiner Ansicht nach die Beseitigung privater Machtzusammenballungen gehören, wodurch demokratische Strukturen weit über das bisher bestehende Maß hinaus auf Teile der Gesellschaft ausgedehnt würden, von denen sie bisher ausgeschlossen sind.

 

So könnte es möglich werden, sich ernsthaft mit der Ungerechtigkeit und dem unnötigen Leid auseinanderzusetzen, die Kennzeichen der heutigen Welt sind, und zu demonstrieren, daß die menschliche Spezies vielleicht doch nicht nureine tödliche Mutation ist, die dazu verurteilt ist, im Laufe einer evolutionären Zehntelsekunde sich selbst und vieles andere zu zerstören.

Bei unverändertem Fortbestehen der heutigen Institutionen des sozialen Lebens ist das meines Erachtens leider keine unwahrscheinliche Perspektive.

  

Noam Chomsky

Z-Magazine, Black & Red Revolution


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